Xiangyang – umkämpft, uneinnehmbar und großartig

 

Eine Stadt mit bewegter Vergangenheit und vielversprechender Zukunft

„Bei uns in Xiangyang isst man gern scharf. Deswegen haben wir wohl auch ein recht unverträgliches Temperament. Wir geraten nämlich schnell in Streit und werden leicht handgreiflich“, erzählte mir Wang, ein junger Freund. Ansonsten gebe es über seine Heimatstadt nicht viel zu berichten, fügte er hinzu, einmal abgesehen von ihrer ereignisreichen Geschichte. Im Nordwesten der Provinz Hubei und an beiden Ufern des Han-Flusses gelegen, einem der wichtigsten Nebenflüsse des Yangzi, war Xiangyang in alter Zeit von größter strategischer Bedeutung. Wer diese Stadt beherrschte, hatte Zugang zum Yangzi-Fluss und damit in den Süden des Landes. Etliche Schlachten wurden in den vergangenen zweieinhalbtausend Jahren in diesem Gebiet geschlagen. Von einigen spricht man noch heute, und sie bieten nach wie vor Stoff für Romane und Filme. Die berühmten Heldengeschichten aus der Zeit der „Drei Reiche“ (220-265) haben sich zum Teil in dieser Region abgespielt und einige der tapfersten Männer Chinas hinterließen hier ihre Spuren. Wie zum Beispiel der Gelehrte Zhuge Liang (181–234): damals ein herausragender Stratege und kluger Staatsmann und heute noch immer ein Vorbild für Weisheit und Unbestechlichkeit. Mehrere Jahre lebte er zurückgezogen in einer Hütte in Longzhong, nahe Xiangyang, um seinen Studien nachzugehen. Dreimal reiste Liu Bei, ein mächtiger Militärführer seiner Zeit, bei ihm an, um ihn als Ratgeber im Kampf gegen die rivalisierenden Kräfte zu gewinnen, ehe Zhuge endlich einwilligte und ihn bei der Gründung seines Reiches half.
„Leider ist Xiangyang heute völlig bedeutungslos. Dort passiert nicht mehr viel“, meinte der junge Freund weiter. Wang denkt wie viele Chinesen, die aus den Provinzen zum Studium in die Metropolen Beijing und Shanghai drängen. Nach ihrem Abschluss kommt für sie eine Rückkehr nicht mehr in Frage. Sie haben sich längst an das pulsierende bunte Leben in der Großstadt gewöhnt.
Trotzdem neugierig geworden reiste ich Anfang Oktober, als ganz China anlässlich des Nationalfeiertages eine Woche Urlaub machte, nach Xiangyang und war überrascht. Nicht nur von der Gastfreundschaft seiner Bewohner und den Besucherströmen, die das ehemalige Anwesen des genialen Strategen Zhuge Liang anlockt, sondern auch von der Tatsache, dass sich Xiangyang zu einem expandierenden Industriezentrum und zur führenden Automobilstadt in Zentralchina entwickelt hat. Firmen und Behörden suchen händeringend nach gut ausgebildeten Nachwuchskräften. Zwar beklagen viele Universitätsabsolventen, keine angemessene Arbeit zu finden, doch leider denken sie ähnlich wie mein junger Freund Wang, dem Xiangyang zu abseits liegt. Dabei befindet sich Xiangyang in einem rasanten Wandel und wird irgendwann wie alle chinesischen Städte geprägt sein von einer riesigen Ansammlung glitzernder Hochhäuser. Doch investiert die Stadt erfreulicherweise auch in die Erhaltung und Pflege des kulturellen Erbes. Die beeindruckende Stadtmauer und mächtige Festungsanlagen gehören heute zu den am besten erhaltenen Anlagen in China. Einst hatte die Stadt den Ruf, uneinnehmbar zu sein. Selbst die Mongolen brauchten drei Jahre, bis sie durch Blockade der Versorgungswege und durch Einsatz modernster Waffentechnik Xiangyang 1273 zur Aufgabe zwangen. Schon Marco Polo wusste von der erstaunlichen Hartnäckigkeit der Bewohner Xiangyangs zu berichten. Nur kannte er nicht den Grund dafür: das scharfe Essen.