Kusama Yayoi, A Dream I Dreamed

 

Eine der bedeutendsten Künstlerinnen Japans begeistert das Shanghaier Publikum

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In letzter Zeit war viel über die politischen Spannungen zwischen China und Japan zu hören. Mancher stellte sich gar die Frage, ob es zu einem Krieg zwischen beiden Ländern kommen könnte. Ganz anders die Situation auf dem Gebiet der Kunst, wo sich Chinesen und Japaner ganz ausgezeichnet verstehen. In Shanghai werden zurzeit die Werke einer der bedeutendsten japanischen Künstlerinnen der Nachkriegszeit ausgestellt, und das Interesse ist riesengroß.

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Ich habe schon etliche Ausstellungseröffnungen in dem Shanghaier Museum of Contemporary Art, MoCa, besucht. Doch einen solchen Andrang wie am 14.12.2013 habe ich noch nie erlebt. Kusama Yayoi, A dream I dreamed! Der Eröffnung vorangegangen war eine Pressekonferenz, zu der mehrere Dutzend Medienvertreter erschienen. Am nächsten Tag wusste halb Shanghai über diese außergewöhnliche Künstlerin der Pop Art, des Minimalismus und der feministischen Kunst Bescheid, und die Schlange derer, die ihr Werk sehen wollten und vor dem Museum geduldig auf Einlass warteten, war mehrere Hundert Meter lang.

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Ich kannte Kusama Yayois Werk nur flüchtig. In Zeitschriften hatte ich Arbeiten von ihr gesehen, wie zum Beispiel ihre polka dots, ihr Markenzeichen. Das sind Farbtupfer, die sie auf Wände, Leinwand, Menschen und Gegenstände setzt. Vor ein paar Jahren hat sie für Louis Vuitton Kleidung und Accessoires mit polka dots bedeckt. Über ihre Person selbst wusste ich nichts, und doch spürte ich beim Rundgang durch ihre Ausstellung schon nach wenigen Minuten die ungeheure Intensität, die dieser Künstlerin und ihrem Werk eigen ist.

Geboren 1929 wuchs Kusama Yayoi im Japan der 1930/1940er Jahre auf. Wie damals für Töchter üblich war die Erziehung streng und autoritär und ganz auf das traditionelle Frauenbild ausgerichtet. Mit unendlich viel Kraft und Schmerz setzte sie gegen den Widerstand ihrer Familie ein Kunststudium durch. Die heftigen familiären Auseinandersetzungen sollen ein Grund sein für den frühen Beginn ihrer psychischen Erkrankung, die sich in Halluzinationen äußerte. Diese Halluzinationen von einer Unendlichkeit an Punkten und Netzen, in denen sie sich zu verlieren und aufzulösen glaubte, spiegelten sich bereits in ihren frühen Arbeiten wider. Schon bald gewann sie als Künstlerin Aufmerksamkeit. 1952 gab es eine erste Einzelausstellung. Weitere folgten. Doch trotz dieser Erfolge wurden ihre Arbeiten in Japan weitestgehend abgelehnt. Als man sie 1955 auf der „18th Biennial at the Brooklyn Museum“ ausstellen wollte, beschloss sie, nach New York zu gehen. Das Geld für den Flug erhielt sie von ihren Eltern gegen das Versprechen, nie wieder zurückzukehren. Bevor sie ging, vernichtete sie den größten Teil ihrer Arbeiten. Erst 1973 kehrte sie nach Japan zurück und quartierte sich in eine psychiatrische Klinik ein, wo sie heute noch lebt.

Kusama Yayoi wird im März 85 Jahre alt. Ihre Werke werden heute in weltweit bekannten Museen und Galerien ausgestellt und erreichen bei Auktionen Höchstpreise. Trotz ihres hohen Alters unterhält sie noch immer ihr Atelier, in dem sie regelmäßig arbeitet.

Die Ausstellung „Kusama Yayoi, A dream I dreamed“ geht bis zum 30. März 2014: Museum of Contemporary Art, Gate 7, People’s Park, 231 Nanjing West Road, Shanghai.



Die Kalligraphen von Hangzhou und ihre vergänglichen Werke

  

Im Himmel das Paradies, auf Erden Hangzhou, so lautet eine alte chinesische Redensart. Und so ganz unrecht hatten die alten Chinesen sicher nicht, denn auch Marco Polo bezeichnete die Stadt als die vornehmste und schönste der Welt. Das kann man heute wohl nicht mehr guten Gewissens behaupten, denn die entscheidenden Behörden gaben sich in den letzten Jahrzehnten reichlich Mühe, durch rigorose Modernisierungsmaßnahmen der Stadt manches von ihrem Zauber zu nehmen. Trotzdem gehört Hangzhou mit seinen vielen Sehenswürdigkeiten noch immer zu den wichtigsten Reisezielen Chinas.

Hangzhou ist eine Stadt der Künste. Dort liebt man die Malerei, die Kalligraphie, das Kunsthandwerk und die Musik. Berühmte Maler gingen aus dieser Gegend hervor. Die Kunstakademie der Stadt ist über die Landesgrenzen hinaus für alle Kenner ein Begriff.

Neben der Malerei gehört die Kalligraphie zu den ältesten chinesischen Künsten, und sie wird bis heute gerade in Hangzhou begeistert gepflegt. Viele machen dies mit Pinsel und Wasser, statt mit Tusche und nicht auf Papier, sondern auf Steinplatten, was nichts kostet und äußerst kommunikativ ist. In den frühen Morgenstunden lässt sich dies besonders gut auf den Promenaden entlang des Westsees beobachten. Dann nämlich rücken alte und angehende Meister mit langen Pinseln und Wassereimern an und üben sich ein, zwei Stunden lang in dieser alten Tradition. Es sei denn, es regnet, was in Hangzhou zum Glück wesentlich seltener vorkommt als in unserem vertrauten Hamburg.

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Wer schreibt findet schnell interessiertes Publikum, und es stört die Kalligraphen nicht, wenn man ihnen beim Schreiben zusieht und sich vielleicht sogar mit der einen oder anderen Frage oder einem Kommentar an sie wendet.

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Geschrieben werden nicht einfach nur zusammenhanglose Zeichen, sondern klassische Texte und Gedichte.

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Zu den Meistern gesellen sich auch Jüngere, die noch kräftig üben müssen und dies auch regelmäßig und ohne Scheu tun.

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Nicht lange, dann trocknen die kunstvollen Zeichen und verschwinden. Aber das macht nichts, denn am nächsten Morgen geht’s ja schon von vorne los.



Besuch bei Christian Dior – in Shanghai

 

Zwei Monate lang, von Mitte September bis Mitte November 2013, war das Museum of Contemporary Art of Shanghai, MoCa, ganz dem Werk Christian Diors gewidmet. Die “ESPRIT DIOR”-AUSSTELLUNG war ein überwältigender Erfolg,die Besucherzahl famos. Der reich bebilderte Ausstellungskatalog fand so reißenden Absatz wie kein anderer zuvor in der Geschichte des Museums.

Am letzten Ausstellungstag ging ich hin, und weil es sich wohl herumgesprochen hatte, dass nach erfolgter Verlängerung die Ausstellung nun endgültig ihr Ende finden würde, herrschte riesiger Andrang. Der Geist des Christian Dior – er hatte die Shanghaier verzaubert.

Wohl in keiner anderen Stadt Chinas sind die Menschen so modebewusst wie gerade in Shanghai. Heute fällt das nicht mehr ganz so auf wie noch vor dreißig, vierzig Jahren, als der spröde Mao-Look angesagt war und es die Shanghaierinnen dennoch verstanden, sich mit kleinen Accessoires etwas schicker herauszuputzen, als es all die anderen Chinesen vermochten.

Das innovative Genie des Christian Dior – in der Shanghaier Ausstellung kam es erneut zum Ausdruck. 1947 präsentierte er in Paris seine erste Kollektion und löste damit eine Revolution in der Modewelt aus. Die Chefredakteurin von Harpers Bazaar prägte den Ausdruck von dem „New Look“, den er kreiert hatte, der Abkehr vom kargen Stil der Kriegsjahre. Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges lag erst zwei Jahre zurück. Der New Look verkörperte eine Hinwendung zur femininen Eleganz mit figurbetonten Oberteilen, schmalen Taillen und weiten Hüften mit schwingenden Röcken, dazu langen Handschuhen und Wagenradhüten.

Mehr als hundert Kleider waren in der Ausstellung zu sehen, die den New Look repräsentierten und von denen einige einst berühmte Persönlichkeiten geschmückt hatten. Zahlreiche Zeichnungen, Entwürfe, Fotos und Videosequenzen sowie Accessoires und Flakons rundeten den Eindruck von Ideenreichtum und Schaffenskraft dieses genialen Meisters der Haute Couture ab. Es wurde begeistert fotografiert und so sollte man sich nicht wundern, wenn demnächst ein paar Shanghaier Kreationen an Dior erinnern.



Der chinesische Startenor Warren Mok

 

Zunächst beeindruckte er mich auf der Shanghaier Opernbühne in Puccinis Tosca, später dann im Interview mit seinem fließenden Deutsch. In Hongkong hatte ich das Vergnügen, Warren Mok persönlich kennen zu lernen.

Warren Mok stammt aus einer angesehenen Medizinerfamilie. In Beijing geboren und in Südchina aufgewachsen, genoss er seine Ausbildung in den USA. Noch wenig vertraut mit seinem Werdegang sprach ich ihn auf Chinesisch an und war überrascht, als er mir auf Deutsch antwortete. Wieso er so gut Deutsch spricht? Weil er seine europäische Karriere 1987 an der Deutschen Oper Berlin begann. Sieben Jahre blieb er dort, eine Zeit, auf die er mit Stolz und Dankbarkeit zurückblickt, denn in Berlin erfuhr er seine künstlerische Prägung. Dort lernte er die weltbesten Sänger und Dirigenten kennen und verinnerlichte das europäische Kunstverständnis. Eine atemberaubende Zeit, die ihm Augen und Geist öffneten, denn in diesen Jahren erlebte er auch den Fall der Berliner Mauer, die Vereinigung Deutschlands und den Wandel in Osteuropa. 1994 kehrte er in den chinesischen Sprachraum zurück, ließ sich in Hongkong nieder und gründete eine Familie. Allerdings lassen ihm die vielen beruflichen Verpflichtungen nur wenig Zeit für sein Privatleben, denn Warren Mok ist inzwischen ein gefeierter Tenor, nicht nur in China, sondern auf allen wichtigen Bühnen der Welt, ob in Sydney, Paris, New York, Wien, Rom oder in Buenos Aires. Sein Repertoire umfasst mehr als sechzig Opernrollen. Darüber hinaus hat er sich mit seinen zwei Kollegen Wei Song und Dai Yuqiang zu den „drei chinesischen Tenören“ zusammengeschlossen, die beispielsweise letztes Jahr die Londoner in der Royal Albert Hall begeisterten.

Warren Mok verdient aber nicht nur als Sänger größte Aufmerksamkeit, denn er gehört zu jenen, die sich heute intensiv um die Verbreitung abendländischer Musik- und Operntraditionen im asiatischen Raum bemühen. So ist er künstlerischer Direktor des Internationalen Musikfestivals in Macao und der Oper Hongkong. Letztere hat er gegründet. Zudem berät er das Shanghaier Opernhaus und fördert vor allem unter jungen Chinesen das Verständnis für westliche Opern. Italiener und Franzosen haben sein Wirken inzwischen mit Preisen gewürdigt. In Deutschland scheint man sein Engagement noch nicht bemerkt zu haben.

Wieviel in Hinsicht auf Kulturvermittlung noch zu tun ist, ahnte ich während jener Tosca-Aufführung in Shanghai. Zwar bin ich daran gewöhnt, dass manche Zuschauer im Kino mit ihren Handys herumspielen, Textnachrichten abrufen und gelegentlich auch telefonieren. Aber dass dies auch während einer Opernaufführung passiert, hat mich dann doch ein wenig überrascht. In der Reihe hinter mir hörte ich plötzlich einen Mann „Wei! Wei?“ (Hallo! Hallo?) zischen. Erst glaubte ich, er meine mich, weil ich ihm vielleicht die Sicht versperrte. Aber dann sprach er weiter. „Bin gerade in der Oper. Wo treffen wir uns nachher zum Essen?“

Wenn im Publikum Smartphones aufleuchten, entgeht das auch den Sängern auf der Bühne nicht. Stört ein solches Verhalten Warren Mok nicht? Weise lächelnd beantwortet er meine Frage mit dem Hinweis auf das Beijinger Publikum. In der Hauptstadt sei man mit der abendländischen Kultur sehr vertraut. Dort käme kaum jemand auf die Idee, während einer Opernvorstellung zum Handy zu greifen. Mit den Shanghaiern und erst recht mit dem Publikum in anderen chinesischen Städten müsste man eben noch ein wenig Geduld haben. Und dann setzt er zu einer Huldigung des deutschen Publikums an. „Es ist das toleranteste der Welt. Ganz gleich welche Hautfarbe du hast und aus welchem Teil der Welt du stammst, die Deutschen sind unvoreingenommen und honorieren eine gute Leistung mit reichlich Applaus.“ Das sei keine Selbstverständlichkeit. Er arbeite gern mit den Deutschen zusammen, weil sie direkt und unkompliziert im Umgang wären. Ist man mit ihnen befreundet, dann hält eine solche Freundschaft ein ganzes Leben. Nur leider wären die Kassen im deutschen Kulturbereich so klamm. Darum fasst er zusammen: nach Deutschland gehst du wegen der Kunst, nach China, um gutes Geld zu verdienen.



Im erlesenen „Manet Club“ zu Beijing

 

Wie es manchmal so ist: ein Freund oder eine Freundin schleppt einen mit, und plötzlich findet man sich in einer Umgebung wieder, in die man sonst wohl eher nicht so leicht hineingeraten wäre. So ging es mir in Beijing, als eine Freundin zum Essen in den „Manet Club“ eingeladen wurde und ich sie kurz entschlossen begleitete. Ich traute meinen Augen kaum angesichts dessen, was mich dort erwartete.

Betuchte Chinesen haben heute in jeder Beziehung hohe Ansprüche, und manche sind erstaunt über den oft mangelnden oder auch verstaubten Luxus europäischer Häuser. Chinesische Städte wie Beijing und Shanghai sind da ganz anders aufgestellt. Sie verfügen über eine Vielzahl von Örtlichkeiten, die diese ausgesuchte Klientel angemessen zu bedienen weiß. Natürlich sind hervorragender Service und exquisite Speisen eine Selbstverständlichkeit, ebenso ein luxuriöses Ambiente.

Diskretion ist ein Muss. Nicht jeder lässt sich gern von fremden Gästen beobachten. Für Gesellschaften jeder Art und Größe gibt es entsprechende Separees, in denen in ungestörter Atmosphäre vertrauliche Gespräche und angeregte Diskussionen geführt oder Partys gefeiert werden können. Gern gesehen ist es, wenn die gesamte Location ein hohes kulturelles Niveau ausstrahlt, denn obwohl für viele Menschen im heutigen China nur noch das Geld zählt, schätzen sie doch den Wert von Kultur. All diesen Ansprüchen wird der „Manet Club“ im nordwestlichen Haidian-Bezirk Beijings gerecht, zu dem nur Mitglieder und ihre Gäste Zutritt haben. Hier treffen sich die Erfolgreichen aus Wirtschaft, Politik und Kultur.

Die beeindruckende Anlage erstreckt sich mit weitläufigem Gebäudekomplex, Park und Wasserspielen über eine Fläche von mehr als zwanzigtausend Quadratmetern und bietet für jeden Anlass passende Räumlichkeiten: ob Tagung, Hochzeit, Privatkonzert oder trautes Essen zu zweit, ob kurzer Besuch oder mehrtätiger Aufenthalt in einer Suite mit Nutzung von Bibliotheksräumen, Spa und Fitnessangeboten. Wer Luxus sucht und ihn bezahlen kann, ist hier richtig.

Inspiriert wurden die Initiatoren von den französischen Impressionisten und dem Lebensstil, den insbesondere Edouard Manet in manchen seiner Gemälde festhielt. Dass die Kunst ein zentrales Anliegen dieses Clubs ist, bemerkt der Besucher nicht nur am vielsagenden Namen, sondern gleich nach seiner Ankunft, wenn er neben der Empfangshalle die weitläufigen Galerieräume entdeckt, die – mit ausgedienten Holzplanken alter Schiffe ungewöhnlich rustikal ausgestattet – für wechselnde Kunstausstellungen und Kunstauktionen reichlich Platz bieten.

Ganz anders dagegen die vornehmen Separees und luxuriösen Salons im übrigen Teil der Anlage, wo dicke Teppiche jeden Schritt abfedern. Im europäischen Stil üppig ausgestattet und mit Ausblick auf den schön angelegten Park bieten die Räumlichkeiten eine Atmosphäre erfrischender Stille, die ein kurzfristiges Aufatmen von der Hektik des modernen chinesischen Alltags gewähren. Den europäischen Besucher lassen sie fast vergessen, in China zu sein. Oder auch nicht, denn eine solche Häufung europäischer Klassik vom Feinsten findet man im Moment wohl nur in China.

Meine Freundin und ich waren begeistert, vor allem von den erlesenen Speisen und dem hervorragenden Wein, und dass zum Schluss die stattliche Rechnung jemand anderes bezahlte, fanden wir auch recht angenehm.



Die musikbegeisterten Hongkonger

  

Das Image einer billigen Produktionsstätte hat die Stadt längst abgestreift. Heute gehört Hongkong mit seiner aufgeschlossenen Bevölkerung nach Singapur und Kobe zu den beliebtesten asiatischen Städten, an denen sich Ausländer niederlassen.


Viele Jahre lang hatte Hongkong das Image einer billigen Produktionsstätte für Spielzeug, Textilien, Elektronik und Uhren und zog als günstiges Einkaufsparadies Touristenströme aus aller Welt an. Auf mich wirkte Hongkong in den 1970/80er Jahren immer wie eine riesige Baustelle. Überall wurde gebohrt, gehämmert und gebaut, Altes wurde abgerissen, Neues aus Stahl, Glas und Beton aufgebaut, stetig höher hinaus und natürlich supermodern. Der Lärm war höllisch, die Staubentwicklung immens. Doch der Lärm kam nicht nur von den Baustellen, sondern drang auch aus den unzähligen Fabrikationsstätten und Heimwerkerbetrieben, in denen die so billigen Waren hergestellt wurden.

Arbeiten und Wohnen spielte sich damals in unmittelbarer Nachbarschaft und auf engstem Raum ab. Dann setzten in China die Wirtschaftsreformen ein und die Hongkonger Unternehmer verlegten ihre Produktionsstätten in die benachbarte, kostengünstigere Provinz Guangdong. 1997 erfolgte die Rückgabe der britischen Kronkolonie an China und viele glaubten, Hongkong hätte nun in jeder Hinsicht an Attraktivität verloren. Doch damit hatten sie die Rechnung ohne die quirligen Hongkonger gemacht, dieses bunt gemischte Völkchen, das sich in vielerlei Hinsicht auszeichnet. Inder, Philippinen, Europäer und Leute aus manch anderen Ecken dieser Welt leben in Hongkong, überwiegend jedoch Chinesen, und zwar Südchinesen, temperamentvolle Menschen also, die wissbegierig, fleißig und innovationsfreudig sind. Sie lieben Geselligkeit und gutes Essen, und sie verstehen etwas vom gesunden Leben. Schon seit Jahren gehören sie mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von über achtzig Jahren zu jener kleinen Gruppe, die weltweit die Statistiken anführt.

Hongkong ist heute ein wichtiger Brückenkopf zwischen den asiatischen und westlichen Volkswirtschaften und für Währungstransaktionen mit dem chinesischen Renminbi von herausragender Bedeutung. Doch damit nicht genug. Die Stadt hat sich als eines der weltweit führenden Auktionszentren einen Namen gemacht, vor allem in den Bereichen Kunst und Wein. Was meiner Meinung nach die Hongkonger aber ganz besonders auszeichnet, ist ihr unstillbarer Lerneifer und ihre große Liebe zur Musik. Hongkong ist heute ein Zentrum für zeitgenössische Musik. Mehr als 200 Komponisten leben und arbeiten in der 7-Millionen-Metropole. Ihre Konzerte sind meist ausverkauft. Internationale Orchester und berühmte Interpreten geben sich in Hongkong sozusagen die Klinke in die Hand. Die Chormusik ist allseits beliebt und weit verbreitet. Mit der Musikerziehung beginnt man bei den Kindern schon in frühem Alter. Oft hat mich erstaunt, mit welchem Ernst sich manche meiner Hongkonger Bekannten in der sparsam bemessenen Freizeit ihrem Hobby, dem Studium von klassischem Gesang, Klavier oder chinesischer Geige, widmen. Trotz eines anstrengenden Arbeitsalltags reicht es ihnen nicht, aus reiner Freude an der Musik einfach nur ein wenig zu singen oder zu spielen. Nein, sie haben den Ehrgeiz, sich dem Metier von der Pike auf zu widmen, mittels vieler Privatstunden, die – nebenbei bemerkt – in Hongkong viel Geld kosten.

Überaus beeindruckend war ein Abend, den ich kürzlich erleben durfte. Ich besuchte meine Freundin Rao Lan, eine Sopranistin, die in Frankfurt und München Liedgesang studiert und viele Jahre in Deutschland gewirkt hat. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Hongkong. Sie überraschte mich in ihrer Wohnung mit einem kleinen Konzert, das allein von ihren Privatschülern bestritten wurde. Diese arbeiten in verschiedensten Berufen, haben aber ein gemeinsames Hobby: den klassischen Gesang. Schubert und Schumann, natürlich auf Deutsch gesungen, aber auch italienisches Belcanto, mit voller Inbrust vorgetragen, dem deutschen Gast zuliebe. Ein anrührendes und unvergessliches Erlebnis.



In Gummihosen und Gummistiefeln auf der Konzertbühne

 

Eine Wasser überspülte Bühne. Musiker in Gummihosen und Gummistiefeln. Tänzerinnen, die fröhlich um sich spritzen, so dass manche Zuschauer auf den teuren Plätzen der ersten Reihe erschrocken in Deckung gehen. In der Ferne singende buddhistische Mönche. Meditative Klänge folgen auf lauten Rock. Atemstöße, Seufzer und das Klingen von Wasser und Metall folgen auf Bach. Willkommen in der „Water Music Hall“ des Tan Dun!

Ich hatte schon mehrfach Gelegenheit, Tan Dun und seine Musik live zu erleben. Etwa 1997 anlässlich der Rückgabe Hongkongs an China, als während der Feierlichkeiten seine eigens komponierte „Symphonie 1997“ aufgeführt wurde. Oder während der Olympiade in Beijing 2008, als China und die ganze Welt täglich Tan Dun hörten, weil er die Musik zur Siegerehrung geschrieben hatte. Ich erlebte ihn damals bei einer Abendveranstaltung, als er seine Komposition vorstellte und ihm anzusehen war, wie stolz und glücklich es ihn machte, seine Musik fortan bei jeder Medaillenvergabe hören zu können. Man muss den Mann mögen, wenn man ihn erlebt und die Begeisterung spürt, mit der er sich seiner Arbeit und immer neuen Ideen und Experimenten widmet.

Tan Dun, 1957 geboren, stammt aus Hunan, der Heimat für Geister- und Spukgeschichten. Eindrücke aus diesen Geschichten scheinen in seine Musik mit einzufließen. Während der Kulturrevolution arbeitete er als Reisbauer, später studierte er in Beijing und in den USA, und in beiden Welten ist er auch heute noch zu Hause, in New York ebenso wie in Shanghai. Die Eindrücke aus beiden Welten verarbeitet er, indem er wie kein anderer Chinesisches und Westliches, Traditionelles und Modernes, Himmel, Mensch und Natur miteinander verbindet und auch die ungewöhnlichsten Materialien zum Klingen bringt. An Mut und Ideenreichtum ist dieser Mann kaum zu überbieten.

Wer die Vielseitigkeit und ungewöhnliche Phantasie Tan Duns hautnah erleben will, sollte sich nach Zhujiajiao begeben, nur etwa eine knappe Autostunde von Shanghai entfernt. Jenes einst durch Handel und Handwerk reich gewordene Wasserstädtchen ist heute mit seinen vielen pittoresken Brücken und traditionellen Häusern ein Touristenzentrum. Sobald sich jedoch gegen Abend die Gassen leeren, kehrt Ruhe ein und dann hört man das leise Plätschern, wenn die Boote den Fluss entlang gestakt werden, hört die Gesänge der Mönche und die Stimmen der Anwohner. Tan Dun kam einst hierher, um lokales Liedergut zu sammeln. Das beschauliche Leben und der Reichtum an alten Traditionen inspirierten ihn, und er entschloss sich zu einem ungewöhnlichen Projekt. Direkt am Fluss ließ er zwei mehrere Jahrhunderte alte Häuser restaurieren und verwandelte sie zu einer „Water Music Hall“. Dabei blieb er seinem Anliegen, Chinesisches mit Westlichem zu verbinden, weiterhin treu: Die gesamte Anlage ist eine grandiose Mischung aus zweckmäßigem Bauhausstil und Ming-zeitlicher, durch klare Linien geprägte Architektur. Der großzügig angelegte Bühnenraum besteht aus zwei großen mit Wasser bedeckten Flächen. Die dahinter gelegene Glaswand gibt den Blick frei auf den jenseits des Flusses gelegenen buddhistischen Tempel. Im oberen Stockwerk befinden sich Wohn- und Arbeitsräume. Hier schuf Tan Dun sein „Water Concerto: A Drop from Heaven“, und wenn er im Lande ist, führt er auch selbst in die Veranstaltungen ein und erklärt den folgenden Dialog zwischen Bach und Zen, bringt die Architektur, also Säulen und Treppen, zum Klingen und macht durch Videoeinspielungen die Musik sichtbar. Wenn sich dann im Laufe des Konzerts die hinteren Glaswände öffnen und der rituelle Gesang der Mönche im gegenüber liegenden Tempel herüberdringt und die Musiker Wasser aus riesigen gläsernen Schalen schöpfen und es wie vom Himmel hinuntertropfen lassen, vergisst man Raum und Zeit und fühlt sich wie in einem Traum. Ein atemberaubendes Erlebnis!



Die Teekannenblase

  

Zishahu aus Yixing

Immer wieder wird von einer chinesischen Immobilienblase berichtet. Wohnungen und Häuser in Metropolen wie Beijing und Shanghai sind zu Spekulationsobjekten geworden. Irgendwann, so heißt es, platze die Blase und viele Leute würden eine Menge Geld verlieren. Aber wen bewegt eigentlich die Teekannenblase? Hat schon mal jemand davon gehört?

Mitte der 1970er Jahre, während meiner ersten Chinareise, entdeckte ich die Keramikkännchen aus Yixing. Seitdem habe ich mein Herz an sie verloren. Die Chinesen nennen sie zishahu, purpurne Tonkannen, weil die Tonerde Yixings, die reich an Eisenoxid ist, ihnen den so typischen rotbräunlichen Farbton verleiht. Neben den warmen Farbnuancen ist es die besondere Materialbeschaffenheit, die diese Teekannen auszeichnet und bei den Chinesen so beliebt macht. Der poröse Ton nimmt das Teearoma auf und verstärkt dadurch den Geschmack.  Das ist umso interessanter, als der Tee recht stark und nur in kleinen Schlucken genossen wird. Handelt es sich beispielsweise um den halbfermentierten Wulongtee, füllt man die Kanne mit Blättern halbvoll, überbrüht und lässt sie nur etwa eine Minute ziehen bevor der Tee in kleine Becher abgegossen wird. Manche älteren Herrschaften halten an dem alten Brauch fest, direkt aus einem eigenen Kännchen zu trinken. Ist eine Kanne lange Jahre in Gebrauch, steckt so viel Aroma in dem Ton, dass allein ein Aufguss mit heißem Wasser schon nach Tee schmeckt.
Zishahu gibt sie in allen Variationen – von schlicht bis elegant und kunstvoll verziert und verschnörkelt, und natürlich auch in allen Größen. Im allgemeinen sind die Kännchen zierlich und passen bequem auf einen Handteller. Nur im Norden bevorzugt man die größeren Kannen, in die viel hineinpasst. Ich begann damals, in den 1970er Jahren, also eifrig zishahu zu sammeln. So ein Kännchen kostete ja nicht viel, und mein lieber Mann, der meine Sammelleidenschaft nicht unbedingt teilte, lächelte nur immer amüsiert, wenn ich mal wieder stolz auf ein volles Dutzend wies. Unruhig wurde er erst, als ich mich für Meisterstücke zu interessieren begann und die Massenware links liegen ließ.

Yixing, keine zweihundert Kilometer westlich von Shanghai gelegen, ist das Mekka für all jene, die meine Vorliebe teilen. Was kann es Schöneres geben, als dort durch die Läden und Manufakturen zu streifen. Vor fast zwanzig Jahren hatte ich erstmals Gelegenheit, die bescheidenen Werkstätten einzelner Meister zu besuchen. Unter ihnen war ein junger Mann, der, anstatt wie seine Kollegen mit neuen Formen zu experimentieren, sich an die schlichte Eleganz jahrhundertealter Vorbilder hielt. Eins seiner Werke fiel mir ganz besonders ins Auge. Für umgerechnet viertausend Euro hätte ich es haben können. Doch das war ein Preis, der für mich jenseits von gut und böse lag. Soviel war ich nicht bereit auszugeben. Kürzlich hielt ich mich erneut in Yixing auf. Aus manchen Meistern sind inzwischen wohlhabende Unternehmer geworden und aus ihren bescheidenen Werkstätten weitläufige Studios mit angeschlossenen Ausstellungsräumen und atemberaubenden Sammlungen. Ich entdeckte ein ähnliches Kännchen wie ich es damals hätte haben können. Rückblickend wäre es ein Schnäppchen gewesen, denn inzwischen hat sich der Preis mehr als verzehnfacht. Aus Mangel an lukrativen Investitionsmöglichkeiten legen viele Chinesen heute ihr Geld in Kunst an, und so natürlich auch in meine heißgeliebten Zishahu. Manche Meister können sich vor Bestellungen kaum retten und verlangen horrende Preise. So warte ich ab bis die Blase irgendwann platzt, damit ich vielleicht doch mal preisgünstig an ein schönes Stück komme.



Überraschendes am Ufer des Kaiserkanals

 


Hangzhou verwandelt alte Lagerhäuser und Fabrikhallen zu Zentren lokalen Kunsthandwerks

Es gibt wohl kaum einen frustrierenderen Job, als den eines Denkmalschützers in China. Früher machte die Ideologie den Leuten das Leben schwer, heute ist es der schnelle Profit. Zu Beginn der so genannten Kulturrevolution rief Mao Zedong zur Zerstörung der “vier Alten” auf – der alten Kultur, alten Sitten, Gebräuche und Denkweisen. Der Prozess des Zerstörens bedeute Kritik und Revolution und folglich Neubeginn. Nur wenn das Altes zerstört würde, könne Neues aufgebaut werden. Die fanatisierte Jugend – als “Rote Garden” organisiert – gab sich alle Mühe, Maos Forderung in die Tat umzusetzen. Mit dramatischen Folgen für Kulturschaffende und das kulturelle Erbe. Die Kulturrevolution endete nach zehn Jahren, doch die Zerstörung sollte weitergehen, denn mit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik setzte ein gewaltiger Wirtschaftsboom ein, dessen Triebfeder der Städte- und Wohnungsbau wurde. Reihenweise fielen Stadtviertel dem Abriss zum Opfer, unzählige historische und erhaltenswerte Bauwerke gingen für immer verloren. Chinas Metropolen haben längst ihr individuelles Gesicht verloren und gleichen einander mit glitzernden Bürotürmen, weitläufigen Plätzen, breiten Straßen, Einkaufszentren und Hochhaussiedlungen. Deswegen überrascht es immer wieder, wenn doch einmal etwas Altes erhalten und sinnvoll genutzt wird. Wie etwa in Hangzhou, am südlichen Ende des Kaiserkanals. Dort beschlossen Investoren und Vertreter der Stadt, die “Kultur am Kaiserkanal” wieder aufleben zu lassen. Zu diesem Zweck sollten an dessen Ufern mehrere historische Wohnviertel, Lagerhäuser und Werkstätten abgerissen und durch moderne Hochhaussiedlungen ersetzt werden. Nun ist der Kaiserkanal nicht irgendein Gewässer, sondern der längste und älteste künstliche Wasserweg der Erde und neben der Großen Mauer eins der bedeutendsten historischen Bauwerke Chinas. Obwohl erste Abschnitte schon aus vorchristlicher Zeit stammen, gilt Kaiser Yangdi der Sui-Dynastie als Bauherr. Ende des sechsten Jahrhunderts ließ er das umfassende Kanalsystem anlegen, das unter späteren Kaisern noch ausgebaut wurde. Mit einer Länge von 1794 Kilometern kreuzte der Kaiserkanal in Nord-Süd-Richtung unter anderem den Gelben und den Jangzi Fluss, also die größten Flussläufe des Landes, und verband diese zu einem gewaltigen Verkehrsnetz. Dadurch wurde zwischen dem Süden und Norden Chinas ein reger Austausch an Waren und Wissen ermöglicht. Erst durch den Kaiserkanal entwickelten sich Städte wie Hangzhou zu blühenden Handelsmetropolen. Nicht grundlos nannte Marco Polo Hangzhou denn auch die glanzvollste Stadt der Welt.

Der Protest gegen den Abriss der historischen Viertel am Ufer des Kanals ließ nicht lange auf sich warten, doch zeigte er bei den Behörden erst Wirkung, nachdem vieles schon zerstört war. Der späte Erfolg kann sich dennoch sehen lassen. So wurden beispielsweise mehrere Lagerhäuser und Fabrikhallen erhalten und in ein weitläufiges Zentrum für traditionelles Kunsthandwerk verwandelt. Ob Drachenbau, Scherenschnitt, Fächer, Sonnenschirme oder Seidenstickerei, ob Scheren oder Skulpturen – der riesige Komplex beherbergt mehrere Museen, die mit ihrer großen Vielfalt an hervorragend präsentierten Exponaten einen beeindruckenden Überblick über die Entwicklung des chinesischen Kunsthandwerks und dessen Verbreitung über den Kaiserkanal geben.

Unter den Besuchern befinden sich auffallend viele Eltern mit ihren Kindern, denn die Verantwortlichen haben sich einiges einfallen lassen, um auch junges Publikum anzuziehen. So demonstrieren auf eigens angelegten Werkplätzen verschiedenste Kunsthandwerker ihr Können, und jeder kann ihnen beliebig über die Schulter schauen. Mancher muss durch Absperrungen vor zu großem Ansturm geschützt werden. Besonders umlagert sind die vielen Werktische, an denen sich Kinder unter Anleitung von jungen Studenten in die Handwerkskünste einführen lassen können. Deswegen erinnert der Lärmpegel in einigen Teilen der Räumlichkeiten auch eher an einen gut besuchten Kinderspielplatz als an ein Museum. Das tut dem Ganzen aber keinen Abbruch. Im Gegenteil. Man kann nur hoffen, dass das Hangzhouer Beispiel im Lande noch viel Nachahmung findet.