„Alles echt antik”, beteuern die Verkäufer. Doch mein chinesischer Verwandter, Sachverständiger für Antiquitäten, weiß es besser. „Nichts ist hier echt antik”, sagt er. Es sei denn, man käme im Morgengrauen. Dann könne es passieren – zwar nur in seltensten Fällen, aber immerhin -, dass man etwas Interessantes findet. Allerdings dürfe man dann meist nicht fragen, wie diese Sachen in den Besitz der Händler geraten sind. „Also Diebesgut?”, frage ich. Der Verwandte hebt die Schultern und sagt: „Das kann durchaus sein. Aber manchmal sind es auch Bauern oder Arbeiter, die irgendwo etwas bei Erdarbeiten ausgebuddelt oder in Abbruchhäusern entdeckt haben und nun zu Geld machen wollen. Beispielsweise viele Jahrhunderte alte Keramik. Solche Sachen werden hier von Kennern in den frühen Morgenstunden sofort entdeckt und gekauft.” Für Chinesen bieten sich auf diese Weise günstige Gelegenheiten. Ausländer sollten bedenken, dass sie mit derlei Einkäufen bei der Ausreise durch die chinesische Zollkontrolle müssen, was sich als schwierig gestalten könnte.
Panjiayuan, im Chaoyang-Distrikt im Südosten Beijings gelegen, ist ein großer Spaß für jeden, der chinesisches Kunsthandwerk und alles was im weitesten Sinne damit zu tun hat, mag. Und wer grundsätzlich davon ausgeht, dass es sich bei den „Antiquitäten“ fast ausschließlich um Repliken und Imitationen handelt, wird auch nicht enttäuscht und kann herrliche Sachen zu günstigen Preisen erstehen. Vorausgesetzt man ist gut im Handeln.
Meine letzten Besuche auf dem Panjiayuan liegen schon viele Jahre zurück. Damals war der Markt noch überschaubar. Inzwischen bedeckt er ein riesiges Areal mit Verkaufsflächen sowohl unter freiem Himmel als auch in Hallen und Buden. Die Aufteilung in Themengebiete ermöglicht rasche Vergleiche mit dem Angebot der benachbarten Stände.
Eine Stunde wollten wir bleiben. Mehr Zeit lohne nicht, meinte mein Verwandter, der Experte, weil das meiste seiner Meinung nach ja doch nur Ramsch wäre. Er musste vier Stunden ausharren, und wenn es nach mir gegangen wäre, noch länger, denn ich konnte mich gar nicht sattsehen. Es werden nicht nur „Antiquitäten” angeboten, sondern vieles mehr was das Herz erfreut wie Schmuck, Kleidung, Gemälde, Skulpturen, Porzellan, chinesische Möbel, Kunsthandwerk ethnischer Minderheiten, Schnitzereien usw.
Fündig wurde ich auf dem Büchermarkt, wo es neben Antiquarischem viele Restposten gibt, beispielsweise von Bildbänden, für die man im Buchhandel einst viel Geld zahlen musste.
Auf jeden Fall kann ich nur jedem empfehlen, diesen Markt einmal zu besuchen. Er gehört heute zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Panjiayuan ist jeden Tag geöffnet, jedoch kommen viele Händler nur am Wochenende, wenn der Besucherandrang besonders stark ist.
Eine der bedeutendsten Künstlerinnen Japans begeistert das Shanghaier Publikum
In letzter Zeit war viel über die politischen Spannungen zwischen China und Japan zu hören. Mancher stellte sich gar die Frage, ob es zu einem Krieg zwischen beiden Ländern kommen könnte. Ganz anders die Situation auf dem Gebiet der Kunst, wo sich Chinesen und Japaner ganz ausgezeichnet verstehen. In Shanghai werden zurzeit die Werke einer der bedeutendsten japanischen Künstlerinnen der Nachkriegszeit ausgestellt, und das Interesse ist riesengroß.
Ich habe schon etliche Ausstellungseröffnungen in dem Shanghaier Museum of Contemporary Art, MoCa, besucht. Doch einen solchen Andrang wie am 14.12.2013 habe ich noch nie erlebt. Kusama Yayoi, A dream I dreamed! Der Eröffnung vorangegangen war eine Pressekonferenz, zu der mehrere Dutzend Medienvertreter erschienen. Am nächsten Tag wusste halb Shanghai über diese außergewöhnliche Künstlerin der Pop Art, des Minimalismus und der feministischen Kunst Bescheid, und die Schlange derer, die ihr Werk sehen wollten und vor dem Museum geduldig auf Einlass warteten, war mehrere Hundert Meter lang.
Ich kannte Kusama Yayois Werk nur flüchtig. In Zeitschriften hatte ich Arbeiten von ihr gesehen, wie zum Beispiel ihre polka dots, ihr Markenzeichen. Das sind Farbtupfer, die sie auf Wände, Leinwand, Menschen und Gegenstände setzt. Vor ein paar Jahren hat sie für Louis Vuitton Kleidung und Accessoires mit polka dots bedeckt. Über ihre Person selbst wusste ich nichts, und doch spürte ich beim Rundgang durch ihre Ausstellung schon nach wenigen Minuten die ungeheure Intensität, die dieser Künstlerin und ihrem Werk eigen ist.
Geboren 1929 wuchs Kusama Yayoi im Japan der 1930/1940er Jahre auf. Wie damals für Töchter üblich war die Erziehung streng und autoritär und ganz auf das traditionelle Frauenbild ausgerichtet. Mit unendlich viel Kraft und Schmerz setzte sie gegen den Widerstand ihrer Familie ein Kunststudium durch. Die heftigen familiären Auseinandersetzungen sollen ein Grund sein für den frühen Beginn ihrer psychischen Erkrankung, die sich in Halluzinationen äußerte. Diese Halluzinationen von einer Unendlichkeit an Punkten und Netzen, in denen sie sich zu verlieren und aufzulösen glaubte, spiegelten sich bereits in ihren frühen Arbeiten wider. Schon bald gewann sie als Künstlerin Aufmerksamkeit. 1952 gab es eine erste Einzelausstellung. Weitere folgten. Doch trotz dieser Erfolge wurden ihre Arbeiten in Japan weitestgehend abgelehnt. Als man sie 1955 auf der „18th Biennial at the Brooklyn Museum“ ausstellen wollte, beschloss sie, nach New York zu gehen. Das Geld für den Flug erhielt sie von ihren Eltern gegen das Versprechen, nie wieder zurückzukehren. Bevor sie ging, vernichtete sie den größten Teil ihrer Arbeiten. Erst 1973 kehrte sie nach Japan zurück und quartierte sich in eine psychiatrische Klinik ein, wo sie heute noch lebt.
Kusama Yayoi wird im März 85 Jahre alt. Ihre Werke werden heute in weltweit bekannten Museen und Galerien ausgestellt und erreichen bei Auktionen Höchstpreise. Trotz ihres hohen Alters unterhält sie noch immer ihr Atelier, in dem sie regelmäßig arbeitet.
Die Ausstellung „Kusama Yayoi, A dream I dreamed“ geht bis zum 30. März 2014: Museum of Contemporary Art, Gate 7, People’s Park, 231 Nanjing West Road, Shanghai.
Im Himmel das Paradies, auf Erden Hangzhou, so lautet eine alte chinesische Redensart. Und so ganz unrecht hatten die alten Chinesen sicher nicht, denn auch Marco Polo bezeichnete die Stadt als die vornehmste und schönste der Welt. Das kann man heute wohl nicht mehr guten Gewissens behaupten, denn die entscheidenden Behörden gaben sich in den letzten Jahrzehnten reichlich Mühe, durch rigorose Modernisierungsmaßnahmen der Stadt manches von ihrem Zauber zu nehmen. Trotzdem gehört Hangzhou mit seinen vielen Sehenswürdigkeiten noch immer zu den wichtigsten Reisezielen Chinas.
Hangzhou ist eine Stadt der Künste. Dort liebt man die Malerei, die Kalligraphie, das Kunsthandwerk und die Musik. Berühmte Maler gingen aus dieser Gegend hervor. Die Kunstakademie der Stadt ist über die Landesgrenzen hinaus für alle Kenner ein Begriff.
Neben der Malerei gehört die Kalligraphie zu den ältesten chinesischen Künsten, und sie wird bis heute gerade in Hangzhou begeistert gepflegt. Viele machen dies mit Pinsel und Wasser, statt mit Tusche und nicht auf Papier, sondern auf Steinplatten, was nichts kostet und äußerst kommunikativ ist. In den frühen Morgenstunden lässt sich dies besonders gut auf den Promenaden entlang des Westsees beobachten. Dann nämlich rücken alte und angehende Meister mit langen Pinseln und Wassereimern an und üben sich ein, zwei Stunden lang in dieser alten Tradition. Es sei denn, es regnet, was in Hangzhou zum Glück wesentlich seltener vorkommt als in unserem vertrauten Hamburg.
Wer schreibt findet schnell interessiertes Publikum, und es stört die Kalligraphen nicht, wenn man ihnen beim Schreiben zusieht und sich vielleicht sogar mit der einen oder anderen Frage oder einem Kommentar an sie wendet.
Geschrieben werden nicht einfach nur zusammenhanglose Zeichen, sondern klassische Texte und Gedichte.
Zu den Meistern gesellen sich auch Jüngere, die noch kräftig üben müssen und dies auch regelmäßig und ohne Scheu tun.
Nicht lange, dann trocknen die kunstvollen Zeichen und verschwinden. Aber das macht nichts, denn am nächsten Morgen geht’s ja schon von vorne los.
Zwei Monate lang, von Mitte September bis Mitte November 2013, war das Museum of Contemporary Art of Shanghai, MoCa, ganz dem Werk Christian Diors gewidmet. Die “ESPRIT DIOR”-AUSSTELLUNG war ein überwältigender Erfolg,die Besucherzahl famos. Der reich bebilderte Ausstellungskatalog fand so reißenden Absatz wie kein anderer zuvor in der Geschichte des Museums.
Am letzten Ausstellungstag ging ich hin, und weil es sich wohl herumgesprochen hatte, dass nach erfolgter Verlängerung die Ausstellung nun endgültig ihr Ende finden würde, herrschte riesiger Andrang. Der Geist des Christian Dior – er hatte die Shanghaier verzaubert.
Wohl in keiner anderen Stadt Chinas sind die Menschen so modebewusst wie gerade in Shanghai. Heute fällt das nicht mehr ganz so auf wie noch vor dreißig, vierzig Jahren, als der spröde Mao-Look angesagt war und es die Shanghaierinnen dennoch verstanden, sich mit kleinen Accessoires etwas schicker herauszuputzen, als es all die anderen Chinesen vermochten.
Das innovative Genie des Christian Dior – in der Shanghaier Ausstellung kam es erneut zum Ausdruck. 1947 präsentierte er in Paris seine erste Kollektion und löste damit eine Revolution in der Modewelt aus. Die Chefredakteurin von Harpers Bazaar prägte den Ausdruck von dem „New Look“, den er kreiert hatte, der Abkehr vom kargen Stil der Kriegsjahre. Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges lag erst zwei Jahre zurück. Der New Look verkörperte eine Hinwendung zur femininen Eleganz mit figurbetonten Oberteilen, schmalen Taillen und weiten Hüften mit schwingenden Röcken, dazu langen Handschuhen und Wagenradhüten.
Mehr als hundert Kleider waren in der Ausstellung zu sehen, die den New Look repräsentierten und von denen einige einst berühmte Persönlichkeiten geschmückt hatten. Zahlreiche Zeichnungen, Entwürfe, Fotos und Videosequenzen sowie Accessoires und Flakons rundeten den Eindruck von Ideenreichtum und Schaffenskraft dieses genialen Meisters der Haute Couture ab. Es wurde begeistert fotografiert und so sollte man sich nicht wundern, wenn demnächst ein paar Shanghaier Kreationen an Dior erinnern.
Eine Freundin in Shanghai drückte mir ein Schraubglas getrockneter Rosenblüten in die Hand. „Etwas ganz Besonderes“, sagte sie. „Rosenblütentee! Das Mittel der Frauen.“
Das Etikett verriet Näheres: Rosenblüten pflegen die Schönheit, stand dort. Sie mildern Schmerzen während der Menstruation, wirken gegen Depressionen und können – langfristig angewandt – die Wechseljahre hinauszögern.
Ich öffnete das Glas und vernahm den feinen Duft der Rosen, der mich an warme Sommertage und die Rosenbeete im Garten meiner Eltern erinnerte.
In China stehen Rosenblüten zur therapeutischen Anwendung hoch im Kurs. Schon seit alters ist man sich ihrer vielfältigen Heilkräfte bewusst. In den Schriften der traditionellen chinesischen Medizin heißt es, Rosenblüten würden das Qi regulieren und Schmerzen verursachende Stagnationen auflösen. Inzwischen weiß man, dass die in den Rosen enthaltenen ätherischen Öle und Gerbstoffe tatsächlich eine adstringierende, antivirale, entzündungshemmende und entkrampfende Wirkung haben. So wird Rosentee zur Stärkung von Herz und Kreislauf, bei Erkältungskrankheiten, vor allem aber bei Verdauungsstörungen empfohlen, weil er regulierend auf den Magendarmtrakt wirkt und deshalb sowohl bei Durchfall als auch bei Verstopfung getrunken werden kann.
Nicht nur die alten Chinesen, auch die Ägypter, Inder, Griechen und Römer kannten die heilenden Wirkstoffe der Rosen. Rosenöl war im Altertum eine Kostbarkeit und ist es bis heute, denn die Herstellung ist äußerst aufwändig. Rund 5000 kg Blütenblätter sind nötig, um 1 kg Rosenöl zu gewinnen. Die alten Perser verstanden sich hervorragend auf die Herstellung von kostbarem Rosenöl. Schon vor 4.000 Jahren begannen sie mit der Veredelung von Rosen.
Rosentee, Rosenöl, Rosenwasser – die Nutzungsmöglichkeiten der Rose im therapeutischen Bereich sind vielfältig. Schier unbegrenzt sind sie auch in kulinarischer und kosmetischer Hinsicht: Rosenessig, Rosenhonig, Rosenkonfitüren, Rosensalben, Cremes, Seifen usw.
Das Etikett auf meinem Schraubglas versprach neben den bereits aufgeführten Wirkweisen auch noch einen guten Teint und ein entspanntes Gemüt. Nun warte ich ab und trinke jeden Tag ein Glas von dem herrlich duftenden Rosentee und eins ist jetzt schon sicher: ich werde mir bald Nachschub besorgen müssen.
Unsere deutschen Medien berichten regelmäßig über schlimmste Fälle von Tierquälerei in China und erwecken damit den Eindruck, die Chinesen wären – im Vergleich zu uns vorbildlichen Deutschen – ein Volk von Tierschändern. Merkwürdig aber, dass sich unter den Chinesen in meiner Umgebung eigentlich nur Tierfreunde befinden und dass manche von ihnen aus Achtung vor den Tieren Vegetarier sind. Ob im Norden, Westen oder Osten, überall habe ich Verwandte, Freunde und Nachbarn, die Hunde, Katzen oder Vögel als Haustiere halten. Es werden immer mehr. Da ist zum Beispiel meine Freundin H., die in Shanghai gleich im Haus gegenüber wohnt. Kürzlich stellte sie mir ihre beiden neuen Mitbewohner vor: Emily und Toby. Ihre Katze hatte Zuwachs bekommen.
Wie ich mich überzeugen konnte sind Mutter und Kinder wohlauf und entwickeln sich prächtig.
Zunächst beeindruckte er mich auf der Shanghaier Opernbühne in Puccinis Tosca, später dann im Interview mit seinem fließenden Deutsch. In Hongkong hatte ich das Vergnügen, Warren Mok persönlich kennen zu lernen.
Warren Mok stammt aus einer angesehenen Medizinerfamilie. In Beijing geboren und in Südchina aufgewachsen, genoss er seine Ausbildung in den USA. Noch wenig vertraut mit seinem Werdegang sprach ich ihn auf Chinesisch an und war überrascht, als er mir auf Deutsch antwortete. Wieso er so gut Deutsch spricht? Weil er seine europäische Karriere 1987 an der Deutschen Oper Berlin begann. Sieben Jahre blieb er dort, eine Zeit, auf die er mit Stolz und Dankbarkeit zurückblickt, denn in Berlin erfuhr er seine künstlerische Prägung. Dort lernte er die weltbesten Sänger und Dirigenten kennen und verinnerlichte das europäische Kunstverständnis. Eine atemberaubende Zeit, die ihm Augen und Geist öffneten, denn in diesen Jahren erlebte er auch den Fall der Berliner Mauer, die Vereinigung Deutschlands und den Wandel in Osteuropa. 1994 kehrte er in den chinesischen Sprachraum zurück, ließ sich in Hongkong nieder und gründete eine Familie. Allerdings lassen ihm die vielen beruflichen Verpflichtungen nur wenig Zeit für sein Privatleben, denn Warren Mok ist inzwischen ein gefeierter Tenor, nicht nur in China, sondern auf allen wichtigen Bühnen der Welt, ob in Sydney, Paris, New York, Wien, Rom oder in Buenos Aires. Sein Repertoire umfasst mehr als sechzig Opernrollen. Darüber hinaus hat er sich mit seinen zwei Kollegen Wei Song und Dai Yuqiang zu den „drei chinesischen Tenören“ zusammengeschlossen, die beispielsweise letztes Jahr die Londoner in der Royal Albert Hall begeisterten.
Warren Mok verdient aber nicht nur als Sänger größte Aufmerksamkeit, denn er gehört zu jenen, die sich heute intensiv um die Verbreitung abendländischer Musik- und Operntraditionen im asiatischen Raum bemühen. So ist er künstlerischer Direktor des Internationalen Musikfestivals in Macao und der Oper Hongkong. Letztere hat er gegründet. Zudem berät er das Shanghaier Opernhaus und fördert vor allem unter jungen Chinesen das Verständnis für westliche Opern. Italiener und Franzosen haben sein Wirken inzwischen mit Preisen gewürdigt. In Deutschland scheint man sein Engagement noch nicht bemerkt zu haben.
Wieviel in Hinsicht auf Kulturvermittlung noch zu tun ist, ahnte ich während jener Tosca-Aufführung in Shanghai. Zwar bin ich daran gewöhnt, dass manche Zuschauer im Kino mit ihren Handys herumspielen, Textnachrichten abrufen und gelegentlich auch telefonieren. Aber dass dies auch während einer Opernaufführung passiert, hat mich dann doch ein wenig überrascht. In der Reihe hinter mir hörte ich plötzlich einen Mann „Wei! Wei?“ (Hallo! Hallo?) zischen. Erst glaubte ich, er meine mich, weil ich ihm vielleicht die Sicht versperrte. Aber dann sprach er weiter. „Bin gerade in der Oper. Wo treffen wir uns nachher zum Essen?“
Wenn im Publikum Smartphones aufleuchten, entgeht das auch den Sängern auf der Bühne nicht. Stört ein solches Verhalten Warren Mok nicht? Weise lächelnd beantwortet er meine Frage mit dem Hinweis auf das Beijinger Publikum. In der Hauptstadt sei man mit der abendländischen Kultur sehr vertraut. Dort käme kaum jemand auf die Idee, während einer Opernvorstellung zum Handy zu greifen. Mit den Shanghaiern und erst recht mit dem Publikum in anderen chinesischen Städten müsste man eben noch ein wenig Geduld haben. Und dann setzt er zu einer Huldigung des deutschen Publikums an. „Es ist das toleranteste der Welt. Ganz gleich welche Hautfarbe du hast und aus welchem Teil der Welt du stammst, die Deutschen sind unvoreingenommen und honorieren eine gute Leistung mit reichlich Applaus.“ Das sei keine Selbstverständlichkeit. Er arbeite gern mit den Deutschen zusammen, weil sie direkt und unkompliziert im Umgang wären. Ist man mit ihnen befreundet, dann hält eine solche Freundschaft ein ganzes Leben. Nur leider wären die Kassen im deutschen Kulturbereich so klamm. Darum fasst er zusammen: nach Deutschland gehst du wegen der Kunst, nach China, um gutes Geld zu verdienen.
Im Norden Chinas liegt oft noch Schnee, in den südlicheren Regionen kann es regnen, häufig weht ein feuchtkalter Wind, der unangenehm in Glieder und Gelenke fährt, und doch sind im ganzen Land Millionen von Menschen auf den Beinen, wenn jedes Jahr aufs Neue das gleiche Wunder geschieht: Aus scheinbar verdorrten und abgestorbenen Zweigen knorriger alter Bäume und zerzauster Sträucher sprießen zarteste Blüten hervor und verwandeln Hügel, Park- und Uferanlagen in ein lieblich duftendes Blütenmeer.
Die Winterpflaume! In China geliebt und hoch verehrt, von unzähligen Dichtern und Malern besungen und getuscht. Sie steht für unbändige Lebenskraft, für das Wiedererwachen der Natur, denn sie kündigt den nahenden Frühling an. Stolz und standhaft trotzt sie Frost und Schnee, genau wie ihre beiden Gefährten, die Kiefer und der Bambus. Zusammen werden sie die „drei Freunde des strengen Winters“ genannt. Vorbildliche Eigenschaften schreibt man der Winterpflaume zu, wie Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit und Ausdauer. Deshalb nennen viele Eltern ihre Töchter nach ihr, in der Hoffnung, diese mögen sich ebenso vorbildlich entwickeln.
Es ist vor allem ihre makellose Schönheit, die die Pflaumenblüte so einzigartig macht. Leider währt die Zeit ihrer vollen Entfaltung nur kurz. Umso mehr bemüht man sich im ganzen Land, dieses Ereignis mit verschiedensten begleitenden Veranstaltungen gebührend zu feiern. Ein paar befreundete Maler fragten meinen Mann und mich, ob wir Lust hätten, sie übers Wochenende zum Pflaumenblüten-Festival in den Chaoshan Hügeln nahe Hangzhou zu begleiten. Natürlich hatten wir Lust.
Schon seit alters gibt es in China einige Regionen, die für ihre Pflaumenblüte besonders berühmt sind. Viele neue Gebiete sind in den letzten Jahren hinzugekommen und sie alle wetteifern heute um den Ruf der schönsten Pflaumenblüte. Auch in Chaoshan hat man sich mächtig angestrengt und viel Geld investiert, um in dem insgesamt fünfzig Hektar großen Gebiet Anpflanzungen zu ergänzen und einzelne Parkanlagen neu zu gestalten. Chaoshan rühmt sich, zwei über tausend Jahre alte Pflaumenbäume zu besitzen. Südöstlich des Yangzi-Flusses gehören diese immerhin zu den fünf ältesten.
Glücklicherweise trafen wir einen Tag vor Beginn des Festivals ein und somit vor dem großen Besucheransturm. So konnten wir ungestört und in aller Ruhe über schmale Wege durch die atemberaubend schönen Anlagen streifen. Welch eine Pracht! Soweit das Auge reichte: überall Bäume und Sträucher, deren weiße, rosa, rote und gelbe Blüten sich gerade öffneten. Ich geriet in einen wahren Farbenrausch und schoss ein Foto nach dem anderen, nur um festzustellen, dass nach der nächsten Wegbiegung und dem nächsten Felsvorsprung ein noch schöneres Motiv wartete. In einem eigens für das Festival angelegten Kunstzentrum war dann noch eine Ausstellung mit den Arbeiten berühmter Künstler anzusehen, natürlich rund um das Thema Pflaumenblüte.
Was machen zwei Dutzend Maler und Kalligraphen nach einem üppigen Abendessen? Ich dachte, sie würden zu Pinsel und Tusche greifen und ihre Eindrücke auf Reispapier festhalten. Falsch gedacht. Sie spielen Majiang (Mah Yongg). An einem der zahlreichen Tische fehlte ein vierter Spieler. So musste ich einspringen. Zwar spiele ich nur alle Jubeljahre Majiang. Aber das Glück war mir hold. Was immer ich brauchte, ich bekam den richtigen Stein und schickte meine Mitspieler sehr zu deren Verdruss schließlich „in den Pflaumengarten“, was mir am nächsten Tag zur Belohnung ein schönes Bild einbrachte, denn kurz vor unserer Abreise griffen sie dann doch noch zu Pinsel und Tusche. Ein gelungener Ausflug! Das Pflaumenblüten-Festival von Chaoshan? Es ist auf jeden Fall einen Besuch wert.
Von der schlechten Atemluft in manchen chinesischen Städten haben wir in den letzten Wochen schon viel gehört. Wie aber steht es eigentlich um die Trinkwasserqualität? Dass wir in Deutschland einfach nur den Hahn aufzudrehen brauchen, um gutes Wasser genießen zu können, ist ein Luxus, der vielen Menschen gar nicht bewusst und in nur wenigen anderen Ländern gegeben ist. Fragt man in Shanghai, ob das Leitungswasser genießbar ist, erhält man meist eine typisch chinesische, sprich ungenaue Antwort: es sei „nicht gut trinkbar“. Ja, was denn nun? Kann man oder kann man es nicht trinken? Viele trinken es, kochen es aber auf jeden Fall vorher ab. Manche Haushalte installieren in ihrer Küche eine eigene Filteranlage. Andere bestellen sich das Trinkwasser in blauen Plastikkanistern ins Haus. Das geht denkbar einfach. Ein Anruf genügt und schon kommt ein Lieferant aus der Nachbarschaft auf seinem Moped angedüst und wuchtet ein, zwei Flaschen in die Wohnung oder ins Büro, jede 19 kg schwer, für etwa 16 Yuan, knapp 2 Euro, pro Flasche.
Es gibt verschiedene Wasseranbieter. Wir haben uns eher zufällig für das Nongfu-Mineralwasser entschieden. Man sieht es überall in großen und kleinen Flaschen abgefüllt. Halb Shanghai scheint es zu trinken. Da habe ich mich manchmal gefragt, wo soviel Wasser eigentlich herkommt. Ob es nicht vielleicht doch aus Shanghaier Wasserleitungen stammt? Aber nein, wurde mir versichert. Es stamme aus dem Qiandaohu, dem See der tausend Inseln. Von dem hatte ich vorher noch nicht viel gehört. Doch dann bekam ich Gelegenheit, ihn mir einmal genauer anzusehen.
Er liegt in der Provinz Zhejiang und ist von Menschenhand geschaffen. Ende der 1950er Jahre baute man dort den über hundert Meter hohen Xin’an-Staudamm und flutete ein ganzes Tal mit dem Wasser des Xin’an-Flusses. Dadurch entstand ein Seengebiet von 573 Quadratkilometern mit – wie es der Name „Qiandaohu“ schon andeutet – über tausend größeren und mehreren tausend kleineren Inseln. Eine atemberaubend schöne Landschaft, vielerorts romantisch anmutend, mit klarem Wasser, bewaldeten Hügeln und guter Luft. Meine Begleiterin, die dort aufgewachsen ist, erzählte mir von einer wahren Idylle, die sie während ihrer Kindheit am Ufer des Sees erlebt hat. Heute ist davon zumindest an den Wochenenden und Feiertagen nicht viel zu spüren. Denn seit den 1990er Jahren hat sich die Gegend in ein überaus beliebtes Naherholungsgebiet verwandelt mit Hotels, Restaurants und Läden unterschiedlichster Güte. Veranstalter bieten Bootsausflüge zu einzelnen Inseln an, etwa zur Insel der Vögel oder der Schlangen. Wer das Abenteuer sucht, kann auch mit entsprechender Ausrüstung zur einstmals bekannten uralten „Stadt der Löwen“, die auf dem Grund des Sees liegt, hinabtauchen. Wir entschieden uns für einen Ausflug zur Affeninsel und zischten mit einem kleinen Motorboot und gesichert durch Schwimmwesten über das Wasser hinweg. Auf der Insel angekommen merkten wir schnell, dass Vorsicht geboten war, denn die diebischen Bewohner erleichtern gern die ahnungslosen Besucher um Brille, Hut und alles Essbare.
Nach einem langen Nachmittag voller Trubel und Geschrei auf einzelnen Inseln und am Ufer des Sees, nach einem ausgiebigen Essen und einem Streifzug durch die Andenkenläden machte ich mir dann aber doch langsam Sorgen um die Qualität meines schönen Nongfu-Mineralwassers. Aber meine Begleiterin winkte ab und meinte augenzwinkernd: „Wir haben uns mit dem Seewasser immer die Füße gewaschen und das hat niemandem geschadet.“
In unserem Buch „Pulverfass China“ gehen wir der Frage nach, was die Chinesen heute bewegt. Wie ist die Stimmung im Land? Sind die Menschen zufrieden? Was bemängeln sie? Zweihundert in China geführte Interviews geben darüber Aufschluss. Hier ein Auszug:
In nur dreißig Jahren gelang den Chinesen, wozu andere Völker mehrere Hundert Jahre benötigten: die Umwandlung von einem bitterarmen heruntergewirtschafteten Entwicklungsland in eine führende Wirtschaftsnation. Das Leben der Chinesen hat sich dadurch dramatisch verändert. Aus dunklen trostlosen Städten sind glitzernde Metropolen geworden, miteinander verbunden durch ein modernes Autobahn- und Hightech-Schienennetz. Viele Chinesen benutzen das Flugzeug heute mit einer Selbstverständlichkeit, als würden sie an der nächsten Straßenecke in einen Bus einsteigen. Kaum zu glauben, dass noch in den 1980er Jahren Fahrräder das Straßenbild beherrschten und die wichtigsten Lebensmittel rationiert waren. …
Die Reformpolitik der letzten Jahrzehnte ist eine einmalige Erfolgsgeschichte, die in einem derart rasanten Tempo verlief, dass für viele Chinesen die Welt auf dem Kopf zu stehen scheint. Müssten sie angesichts dieser atemberaubenden Entwicklung nicht hochzufrieden sein?
In der Tat treten die politischen Repräsentanten des Landes heute mit gestärktem Selbstbewusstsein auf. Die Kommunistische Partei Chinas, die diesen Höhenflug mit ihrer Reform- und Öffnungspolitik möglich machte, beansprucht den Erfolg für sich. Dennoch steht sie vor gewaltigen Herausforderungen, deren Ausgang noch völlig offen ist. Als sie 1949 die Herrschaft über das heruntergewirtschaftete und durch Kriege erschütterte Land übernahm, tat sie dies mit breiter Unterstützung der Bevölkerung. Eine fehlgeleitete Politik führte jedoch zu dramatischen Rückschlägen. Nach Mao Zedongs Tod konnte Deng Xiaoping im Jahre 1978 das Ruder herumreißen und durch seine auf Wirtschaft und Öffnung ausgerichtete Politik den sensationellen Aufschwung einleiten. Dennoch leidet die Partei unter einem gewaltigen Vertrauensverlust. Selbst unter den eigenen Mitgliedern herrscht größte Skepsis, ob sie die richtigen Lösungen für die brennenden Probleme finden kann.
China ist ein Land der Widersprüche und diese treten immer deutlicher zutage. Nie zuvor in den vergangenen sechs Jahrzehnten ist im Land so kontrovers und auch so offen über die politische Situation diskutiert worden. Während für die einen noch immer ungebrochene Aufbruchstimmung herrscht, schrillen für die anderen längst die Alarmglocken. … Einerseits hat sich ihre gesamte Lebensstituation verbessert, und sie verfügen heute über vielfältige Möglichkeiten der Lebensplanung und –gestaltung, der Kommunikation und Mobilität. Andererseits wirft die tägliche Realität drängende Fragen auf nach Recht und Unrecht, Sinn und Wahrheit. …
Was bewegt die Menschen heute in China, was beunruhigt sie, womit sind sie unzufrieden, was bedrückt sie, und nicht zuletzt: Worauf sind sie stolz? Wir wollten es wissen und stellten deshalb zwei Fragen: Womit seid ihr zufrieden? Womit unzufrieden? Oft präzisierten wir unsere Frage und sprachen den Mangel an Freiheit, Demokratie und Menschenrechten an. Ist es das, was euch fehlt? …
Ein altgedienter bekannter Parteiveteran meinte spontan: „In die heutige Kommunistische Partei wäre ich nie eingetreten. Wir haben damals mit unserer Revolution von 1949 die alte Klassengesellschaft zerschlagen, die Unterschiede zwischen Arm und Reich aufgehoben, Korruption und Prostitution aus unserer Gesellschaft verbannt. Doch inzwischen tauchen die alten Übel überall wieder auf, und es sind neue Klassen entstanden. Die Kinder und Enkel der herrschenden Parteifunktionäre sind die Profiteure unseres ungeheuren Wirtschaftsbooms. Sie bilden den neuen Geldadel. Die Reichen von heute sind noch wesentlich reicher als jene von damals, nur anders als früher bringen die meisten von ihnen heute ihr Kapital ins Ausland, weil sie selbst nämlich kein Vertrauen in die Entwicklung unseres Landes haben.“
Häufig lösten die Gespräche bei uns Autoren große Betroffenheit aus, nämlich immer dann, wenn die Situation im Lande in den düstersten Farben geschildert wurde, so dass man den Eindruck gewinnen konnte, China sei ein Pulverfass. Aber stimmt das? Ist China wirklich ein Pulverfass oder war die Kritik unserer oftmals sehr aufgebrachten Gesprächspartner übertrieben? Nein, sie war nicht übertrieben. Viel Unrecht ist geschehen, und geschieht täglich weiter, nachzulesen im Internet, aber durchaus auch in den chinesischen Tageszeitungen oder zu verfolgen in kritischen Beiträgen der zentralen und Hongkonger Fernsehsender. Und dennoch: Trotz aller berechtigten Klagen ist im Land Enormes geleistet worden. Niemals zuvor in den vergangenen sechzig Jahren hat es so viel individuelle Freiheit gegeben. Auch sind gewaltige Schritte in Richtung Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen gemacht worden. Aus eigener Anschauung können wir den heutigen Lebensstandard mit dem vor 1949 und dem in den 1970er Jahren vergleichen. Erzählen wir den jungen Leuten heute, dass es sogar noch Anfang der 1980er Jahre oft ein unlösbares Problem war, telefonieren zu wollen, treffen wir auf skeptisches Staunen, das jedoch nicht lange anhält. Die Jugend mag sich nicht mit solchen Vergleichen abspeisen lassen, und Geduld zählt nicht zu ihren Tugenden. Sie verlangt mehr. …
Wie also steht es um die Situation im Land? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Ein bekannter Professor der Beijinger Qinghua-Universität sieht China in der Tat als eine Art Pulverfass. Er stellte kürzlich fest: „In Wirklichkeit steht es viel schlimmer um unser Land, als die meisten ahnen. Unsere Gesellschaft ist todkrank und ohne jede Hoffnung auf Genesung. Sie steht vor dem Zusammenbruch.“ Was macht China krank? Eine Umfrage brachte es an den Tag und deckt sich mit den Ergebnissen unserer eigenen Recherchen. Im November 2009 verteilte das „Volksforum“, eine Zeitschrift, die der „Volkszeitung“ angehört, an 8 000 Personen in hundert Universitäten und Instituten eine Liste, auf der die größten vermuteten Probleme der nächsten zehn Jahre aufgeführt waren, von denen die Befragten mehrere ankreuzen konnten.
Über achtzig Prozent der Befragten nannten die ausufernde Korruption in der Funktionärsschicht und den damit einhergehenden dramatischen Autoritätsverlust der Parteiführung als größtes Problem in ihrem Land. Sie gingen sogar davon aus, dass sich die Korruption in den nächsten zehn Jahren noch verschlimmern würde. Ebenfalls über achtzig Prozent beunruhigt die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die daraus resultierende Angst vor Aufständen und Übergriffen. Über sechzig Prozent nannten die Konflikte mit Parteifunktionären in lokalen Verwaltungseinheiten als gefährlichen Herd von Empörung und Aufruhr. Durch gierige und skrupellose Kader geschehe so viel Unrecht, dass sich die Bürger heute fragten, wem die Partei eigentlich diene. Dem Volke, wie sie es immer propagiere, sicherlich nicht. Das Vertrauen in die Kommunistische Partei ist tief gestört. Man glaubt ihren Vertretern nicht mehr. …