Darüber braucht ein Chinese nicht lange nachzudenken. Die Finger einer einzigen Hand reichen aus, um die bemerkenswertesten deutschen Eigenheiten aufzuzählen.
Auszug aus: „Die Langnasen“ – Was die Chinesen über uns Deutsche denken
Die Deutschen sind fleißig, diszipliniert, zuverlässig, ernst und korrekt. Das klingt ganz nach preußischen Tugenden. Kein Wunder, denn schließlich hat das preußische Deutschland jahrzehntelang das chinesische Deutschlandbild geprägt. Um 1860 begannen die offiziellen Beziehungen zwischen beiden Nationen. Seit jener Zeit gibt es in China deutsche Produkte, und man hat gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Damals begeisterten Kruppsche Kanonen die chinesischen Herzen. Mit deutscher Waffentechnik und deutschem Drill hoffte man sich gegen die eindringenden Briten und Franzosen zur Wehr setzen zu können. Heute sind es Mercedes-Benz, Siemens und andere Marken „Made in Germany“, die den Ruf der Deutschen prägen. Der pensionierte Polizeichef eines Shanghaier Stadtbezirkes bringt es auf den Punkt: „Die Deutschen? Ganz tadellose Leute. Ich habe mir vor vierzig Jahren einen deutschen Schraubenzieher gekauft. Den benutze ich noch heute. Der ist aus deutschem Stahl, und der überlebt mich sicher. Den kann ich sogar meinem Enkel vererben. Alle anderen Schraubenzieher, die ich mir im Laufe der Jahre zugelegt habe, sind aus chinesischer Produktion und längst kaputt.“
„Die Deutschen sind die geborenen Forscher“, glaubt Herr W., ein junger Informatiker aus Hubei, der noch nie im Ausland war. „Natürlich sind sie längst nicht so romantisch wie die Franzosen, aber immerhin, es sind kluge Köpfe. Einstein war ein Deutscher und Röntgen auch. Die Deutschen entwickeln hervorragende Produkte. Wir Chinesen sind dazu nicht in der Lage, weil wir nicht so akkurat arbeiten wie die Deutschen. Die Präzision hat ihre Technik berühmt gemacht. Man kann sich auf deutsche Qualität verlassen.“
Dem stimmt auch der achtzigjährige Professor Z. aus Shanghai zu. „Schon als Schüler schrieb ich mit deutschen Bleistiften der Marke Staedtler, und mein Zirkelkasten kam ebenfalls aus Deutschland. Heute schreibe ich immer noch mit Staedtler. Es sind die besten Bleistifte der Welt. Ihre Bleiminen brechen nicht.“
Viele Chinesen sind sich einig: Deutsche halten, was sie versprechen, und sie sind gut in Analyse und Logik. Doch manchmal sind die Deutschen auch erstaunlich umständlich. Sie lieben es, Einfaches kompliziert zu machen, so als würden sie sich mit der linken Hand über den Kopf greifen, um das rechte Ohr zu kratzen.
Auszug aus dem Buch „Die Langnasen“, das verrät, was die beiden Völker unterscheidet und was sie vereint
In einem sind sich die Chinesen weitgehend einig: Die Deutschen sind stur. Sie haben einen unbeugsamen Charakter. Typisch für die Chinesen hingegen sei die menschliche Wärme.
„Was den Deutschen fehlt, haben wir Chinesen im Überfluss, und was uns Chinesen fehlt, haben die Deutschen im Überfluss“, sagt der Pianist S. aus Beijing. „Den Deutschen ist eine strenge Disziplin und die Liebe zur Perfektion zu eigen. Wir Chinesen halten nicht viel von Disziplin und mit vielen Dingen nehmen wir es nicht so genau. Wir sind oft unbeherrscht und wissen nicht wohin mit unseren Gefühlen. Da sind die Deutschen ganz anders. Sie sind strikt und konsequent. Sie sind Kopfmenschen. Es fehlt ihnen an Sensibilität. Das wird in der Musik sehr deutlich. Ich kenne keinen deutschen Pianisten, der es versteht, Chopin gut zu spielen. Wir Chinesen entwickeln da viel mehr Gefühl. Ich spielte einmal in Deutschland vor einer Gruppe ausländischer Diplomaten Stücke von Chopin und Beethoven. Nach dem Konzert gratulierte mir der polnische Botschafter und erklärte vor versammeltem Publikum: „Ich habe noch keinen Deutschen so gut Chopin spielen hören wie diesen jungen Chinesen.“ Der deutsche Vertreter des Auswärtigen Amtes konterte blitzschnell: „Und ich habe noch keinen Polen so gut Beethoven spielen hören wie es dieser junge Chinese vermag.“ Darauf folgte großes Gelächter und alle waren guter Dinge. Ich habe das nie vergessen, weniger wegen des Lobes, als vielmehr wegen des wahren Kerns in der Aussage. Die Polen tragen ein ähnliches Feuer in sich wie wir Chinesen. Ebenso wie wir lieben sie die Romantik und die Poesie. Unsere lange Tradition der Malerei und Poesie, die abstrakten Landschaftsbilder, die Tang-Gedichte, all das gehört zu unserer Kultur. Sich am Kunstgenuss zu berauschen, das ist etwas, was uns Chinesen im Blut steckt. Die Deutschen hingegen sind streng, ernst und genau. Beethoven und Brahms sind typisch deutsche Komponisten. Sie sind überwältigend, grandios, aber nicht romantisch. Wenn Chinesen klassische europäische Musik studieren wollen, zumal deutsche, dann rate ich ihnen immer, sich zuerst Beethoven mit zu beschäftigen, weil genau das, was uns fehlt, in seiner Musik steckt: strikte Genauigkeit und Perfektion.“
Chinesen ordnen sich nicht gern unter, auch nicht als Mitglieder in einem Orchester. Wer in China Musik studiert, möchte Solist werden und betrachtet Lang Lang oder Ma Yoyo als Vorbild. Chinesen lieben es, als Solist oder als Dirigent aufzutreten. Mitglied eines Orchesters zu sein, ist für ehrgeizige Musikstudenten wenig erstrebenswert. In dieser Hinsicht sind die Deutschen ganz anders. Die Deutschen bilden phantastische Orchester, weil sie bereit sind, sich unterzuordnen und zu gehorchen. Das liegt ihnen im Blut. Und die Chinesen? Um das herauszufinden, empfiehlt der Pianist S. den Besuch eines buddhistischen Klosters und einer deutschen Kirche. „Der leiernde Singsang der Mönche und Nonnen in einem chinesischen Kloster zeugt davon, dass jeder singt wie es ihm beliebt. So gefällt es uns. In einer deutschen Kirche braucht nur die Orgel aufzuspielen und schon greifen die Gläubigen zu ihren Gesangbüchern, um Text und Noten zu verfolgen und es entsteht ein harmonischer Gesang. Die Deutschen nehmen die Musik sehr ernst. Sie begleitet sie durch ihr tägliches Leben. Es gibt sie für alle Lebenslagen. Für Hochzeiten ebenso wie für Beerdigungen, für Festessen wie für Wasserspiele oder Meditationen. Selbst beim Militär geht es nicht ohne Musik. Im Gleichschritt marsch! So sind die Deutschen.“
Als sich das deutsche Ostasien-Geschwader am 14. November 1897 dem 1000-Seelen-Fischerdorf Qingdao näherte, glaubte der Befehlshaber der dortigen Garnison, General Zhang, an einen Freundschaftsbesuch und ein Übungsmanöver, denn die Deutschen waren schon einmal dagewesen, und es war zu freundschaftlichen Kontakten gekommen. Und weil sich General Zhang gutgläubig den ausländischen Gästen widmete, bemerkte er nicht, dass 700 bewaffnete deutsche Matrosen heimlich alle strategisch wichtigen Punkte besetzten. Erst als er aufgefordert wurde, mit seinen 2000 Soldaten innerhalb von drei Stunden den Posten zu räumen, begriff er, was passiert war. Keine vier Monate später unterzeicheten Deutsche und Chinesen einen Pachtvertrag über 99 Jahre, und schon im April 1898 erklärte Wilhelm II das Gebiet zur deutschen Kolonie.
Das junge Deutsche Reich wollte Weltmacht ersten Ranges werden und mit den anderen Kolonialstaaten, vor allem in Konkurrenz zu England, an der Aufteilung der Welt teilnehmen. Dazu bedurfte es überseeischer Stützpunkte. Die Neuerwerbung wurde dem Reichsmarineamt unterstellt, das mit strengem Reglement ans Werk ging. Qingdao sollte eine Musterkolonie werden, ein Schauobjekt deutschen Wirkens und deutscher Tüchtigkeit. Deshalb sollten auch Zucht und Ordnung herrschen, und wer das von den Chinesen nicht verstand und gegen die neu erlassenen Gesetze verstieß, wurde mit Peitschenhieben und Prügel zur Räson gebracht. Auch strenge Rassentrennung gehörte zur Herrschaft der Deutschen. Chinesen und Europäer wohnten in getrennten Wohnvierteln mit unterschiedlich hygienischen Standards. Im Villenviertel der Weißen waren Chinesen nur als Dienstboten geduldet. Zwar durften sich vermögende Chinesen dort ein Haus bauen, selber drin wohnen aber nicht.
Für 99 Jahre, am liebsten für immer wollten die Deutschen Qingdao besitzen. Doch schon nach siebzehn Jahren, mit Beginn des Ersten Weltkriegs, ging das Gebiet an die Japaner verloren. Aus heutiger Sicht zu unserem Vorteil, denn so vergaßen die Chinesen recht schnell die Schattenseiten der deutschen Herrschaft. Fragt man heute in Qingdao nach der deutschen Kolonialzeit, wissen manche von wahren Wunderdingen zu berichten. Von den deutschen Abwasserrohren beispielsweise, die auch nach 100 Jahren dicht sind, was man von den jüngeren chinesischen nicht behaupten kann. Auch hätten die Deutschen vorausschauend einige notwendige Ersatzteile mit in den Boden eingebuddelt. Erstaunlich auch die Kirchen, die von den deutschen Architekten so gut geplant worden wären, dass heute noch die längsten Orgelpfeifen problemlos hineintransportiert und aufgestellt werden könnten. Und überhaupt: Neben technischem Können, Fleiß und Ordnungsliebe zeichne die Deutschen vor allem Beständigkeit aus, versichert mir eine alte Dame, mit der ich zufällig auf der Straße ins Gespräch komme. Sie hätte gehört, dass sich die Telefonnummern deutscher Firmen seit damals nicht verändert hätten. Aus Sympathie schenkt sie mir eine Feige aus ihrem Garten.
1975 besuchte ich Qingdao zum ersten Mal. Die Stadt wirkte auf mich wie ein deutsches Ostseebad. Doch mehr als 30 Jahre Wirtschaftsboom haben die deutschen Spuren fast verwischt. Die Stadt unterscheidet sich mit ihren vielen Hochhäusern aus Stahl, Glas und Beton kaum noch von den anderen supermodernen chinesischen Metropolen. Die Qingdaoer scheinen dies allmählich zu bedauern, denn allerorten werden verschiedenste Anstrengungen unternommen, auf das deutsche Erbe hinzuweisen und es wiederzubeleben. Es gibt der Stadt ein interessantes Flair, das sie von allen anderen chinesischen Städten unterscheidet und sie einmalig macht. Deshalb sind deutsche Investoren dort auch ganz besonders gern gesehen.
Bei den Recherchen zu unserem Buch „Die Langnasen – Was die Chinesen über uns Deutsche denken“ gingen wir der Frage nach, wann die ersten Chinesen nach Deutschland kamen und wer sie waren. Wir stießen dabei auf die Geschichte der jungen Kaufleute Feng Yaxing und Feng Yaxue, zwei Cousins aus Kanton, gebildet, abenteuerlustig und sicherlich allem Neuen aufgeschlossen. Letzteres sollte ihnen zum Verhängnis werden.
Um 1818 reisten sie auf einem Segelschiff der britischen Ostindienkompanie Richtung Europa. Zunächst gelangten sie nach St. Helena, jener Insel, auf der einer der berühmtesten Zeitgenossen Europas gerade in der Verbannung lebte: Napoleon I. Sie wurden zu einem gemeinsamen Essen mit ihm eingeladen. Von St. Helena ging es weiter nach London, wo sie einen deutschen Kaufmann trafen, der sie zu einem Besuch seiner Heimat überredete. Sie ahnten nicht, dass sie damit ihre Freiheit verlieren würden.
Damals führte man gern exotisch wirkende Menschen aus Übersee auf Schaubühnen einem interessierten Publikum vor. Auch in Hamburgs berühmtem Zoo fanden bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert solche Völkerschauen statt. Zwar sperrte der deutsche Kaufmann die beiden in keinen Zoo, stellte sie jedoch in einer Exotenschau dem Berliner Publikum vor. Gegen einen Eintrittspreis von 6 Groschen konnte man ihnen zusehen, wie sie in langen Gewändern die zweisaitige Geige spielten, Chinesisch sprachen, Schriftzeichen pinselten und Bewegungen des Schattenboxens vollführten. Heinrich Heine soll sich das angesehen haben und auch Johann Wolfgang von Goethe zeigte Interesse. Er empfing die beiden zu Hause in Weimar zu einem Essen.
Doch die Exotenschau erwies sich als wenig einträglich. Die Berliner fanden nicht viel Besonderes an den beiden Chinesen. Darum versuchte ihr deutscher Entdecker sie auch schnell wieder loszuwerden und bot sie für 1000 Taler dem preußischen König an. In Preußen beobachtete man schon seit langem mit Unmut den Erfolg der führenden europäischen Seehandelsnationen und beneidete sie um ihre Stützpunkte in Übersee. Im siebzehnten Jahrhundert hatte der brandenburgische Kurfürst versucht, nach holländischem Vorbild eine Ostindienkompanie zu gründen. Dafür brauchte man jedoch nicht nur Häfen und hochseetaugliche Schiffe, sondern auch detaillierte Kenntnisse der überseeischen Regionen. Friedrich Wilhelm III. glaubte, dass die Fengs ihm wertvolle Informationen zum Chinahandel liefern könnten, zahlte deshalb die geforderte Summe und nahm die beiden 1823 als Lakaien in seine Hofdienerschaft auf. Die Fengs wären lieber in ihre Heimat zurückgekehrt, doch wurde ihnen dies verwehrt. Stattdessen mussten sie Deutsch lernen und deutsche Wissenschaftler in Chinesisch unterrichten. Später hatten sie biblische Texte ins Chinesische und Texte aus chinesischen Klassikern ins Deutsche zu übersetzten. 1826 heiratete Feng Yaxue mit Genehmigung des Königs eine deutsche Frau. Es war die erste registrierte deutsch-chinesische Eheschließung. Auch sein Cousin Yaxing heiratete eine Deutsche. Als diese bei der Geburt ihres vierten Kindes starb, bat er erneut darum, in seine Heimat zurückkehren zu dürfen. 1836 wurde ihm dies gestattet. Er soll in China das stolze Alter von 95 Jahren erreicht haben. Feng Yaxue hingegen blieb in Potsdam. Er starb 1877 im Alter von 79 Jahren, angeblich als wohlhabender Mann.