Ich saß mit meiner Freundin und ihrem hellwachen Onkel von Anfang neunzig Jahren beim Essen in einem Hamburger Chinarestaurant. Da kam die Sprache auf das Lieblingsspiel der Chinesen: Mah Jongg oder Majiang – wie es im Hochchinesischen heißt. Meine Freundin hatte einst ein Majiang-Spiel von ihrer Großmutter geerbt, es aber nie zu spielen gelernt. Nichts leichter als das, sagte ich, ich bringe es dir bei. Während meiner Studienzeit erlernte ich es von drei Kommilitoninnen aus Taiwan und Hongkong, weil sie eine vierte Mitspielerin brauchten.
Der alte Onkel lächelte versonnen und begann aus seiner Kindheit zu erzählen. Seine Mutter – d.h. die Großmutter meiner Freundin – hätte regelmäßig mit ihren Bekannten Majiang gespielt und dabei immer einen Riesenspaß gehabt. Das muss in den 1920er Jahren gewesen sein, sagte ich. Der alte Herr nickte bestätigend. Majiang sei damals sehr beliebt und weit verbreitet gewesen. Viele Damen der besseren Hamburger Gesellschaft hätten es gespielt und lange Nachmittage am Spieltisch verbracht. Ich konnte es kaum glauben. Wo hatten diese Damen denn alle ihre Majiang-Spiele her? „Aus China natürlich“, meinte meine Freundin, „woher denn sonst?“
Ein paar Tage später trafen wir uns bei ihr zum Majiang-Unterricht. Mit von der Partie waren zwei Frauen, die das Spiel ebenfalls lernen wollten. Wie es sich gehört setzten wir uns an einen quadratischen Tisch und mischten mit lautem Geklapper Großmutters alte Spielsteine.
Das geräuschvolle Mischen der Majiang-Steine ist ein Ritual, das überall im chinesischen Raum zu vernehmen ist, vor allem in den Abendstunden. In Hongkong begleitete es mich oft in den Schlaf, und auch in Taiwan, wo ich einige Zeit lebte, gehörte es zum Alltag. Dort erlebte ich hautnah, welche Dramen Spielsucht und Spielschulden verursachen können, denn Majiang wird meist mit Geldeinsätzen gespielt, und so mancher hat dabei Haus und Hof verloren. Deshalb wurde es nach 1949 in der Volksrepublik verboten. Inzwischen ist es jedoch wieder weit verbreitet und insbesondere bei älteren Menschen zur geistigen Anregung und zum Zeitvertreib sehr beliebt.
Ich hatte mich auf unser Majiang-Treffen gründlich vorbereitet und alle mir bekannten Regeln aufgeschrieben. Wäre gar nicht nötig gewesen, meinte meine Freundin und wedelte mit einem vergilten Papier, das sie auf dem Boden des Spielkastens gefunden hatte: eine deutschsprachige Spielanleitung. Ich sah mir daraufhin den Spielkasten genauer an. Er war mit dunkelblauem Stoff bezogen und mit der Aufschrift „Mah Jongg Golconda“ versehen. Golconda? Das klingt nicht gerade Chinesisch. Wie gut, dass es Google & Co. gibt, wo man schnell einmal nachschauen kann und so erfuhr ich schon im nächsten Moment einiges Wissenswertes:
Im Jahre 1912 ging der amerikanische Tiefbauingenieur Joseph Park Babcock (1893 – 1949) aus Lafayette, Indiana, für die Firma „Standard Oil“ nach China, wo er das Majiang-Spiel kennen und spielen lernte. Um 1920 machte er es unter dem Namen „Mah-Jongg“ in den USA bekannt. Von dort gelangte es nach Europa, unter anderem nach Deutschland, wo es so beliebt wurde, dass einheimische Betriebe sich auf die Produktion von Majiang-Spielen spezialisierten. Vor allem zwei Firmen taten sich hervor: die thüringische R. Ad. Richter & Cie. Baukastenfabrik in Rudolstadt und die Hamburger Nordicus-Golconda Werke.
„Mein schönes Majiang-Spiel kommt aus Hamburg und gar nicht aus China?“, fragte meine Freundin ungläubig und schaute enttäuscht auf ihre Spielsteine. Aber nicht lange, da kehrte ihre Freude zurück, denn es spielte sich ganz ausgezeichnet mit Großmutters alten Hamburger Majiang-Steinen.
Traditionelle Familienfeste sind für manch deutsch-chinesisches Ehepaar – und für andere wahrscheinlich auch – wahre Geduldsproben. Mein lieber Mann findet das deutsche Weihnachtsfest, so wie es meine Familie feiert, sterbenslangweilig, und mir geht es mit dem chinesischen Neujahrsfest ähnlich. Doch halt! So ganz stimmt das nicht.
Unvergesslich ist für mich das Neujahrsfest von 1981. Ich besuchte damals zum ersten Mal die Familie meines Mannes in Beijing. Er war nach dreizehn Jahren sozusagen als verlorener Sohn in den Kreis seiner Familie zurückgekehrt. Allein diese Tatsache machte das Fest für die gesamte Sippe zum einmaligen Erlebnis. Mein Schwiegervater war damals 85 Jahre alt, noch rüstig und ganz im Besitz seiner geistigen Kräfte. Er hatte einst im Untergrund für die Revolution gekämpft, um China von Armut und Fremdherrschaft zu befreien. Noch immer hielt ihn das Weltgeschehen in Bann, und er tat nichts lieber, als vor seinen Kindern, Nichten und Neffen belehrende Reden zu halten. Konfuzianisch geprägt lauschten die Jüngeren respektvoll und schwiegen, und erst wenn sich der alte Herr, vom vielen Reden müde geworden, zurückzog, kam die jüngere Generation in Fahrt und plauderte munter drauflos.
Schon Tage vor dem Neujahrsfest spürt man allerorten hektische Betriebsamkeit. Wohnungen und Häuser werden geputzt und mit Glückssymbolen geschmückt, mit frischen Pflanzen wie Früchte tragende Orangenbäumchen oder in Schalen gezogene blühende Narzissen. Rote und goldene Schriftzeichen werden an Fenster, Türen und Wände angebracht, und überall taucht das neue Tierzeichen des nahenden Jahres in den verschiedensten Darstellungen und Variationen auf, sei es Tiger oder Drache, Hase oder Hund. Geschenke werden vorbereitet, kleine und große, günstige und kostbare, die an Mitarbeiter, Geschäftsfreunde und alle anderen, die einem wichtig sind oder mit denen man täglich zu tun hat, verteilt werden. Nachts bekommt man in diesen Tagen oftmals kein Auge zu, weil viele junge Leute vorzugsweise zu später Stunde schon mal gern mit Feuerwerkskörpern herumknallen.
Damals, 1981, merkte man von der Ein-Kind-Politik noch nicht viel. Noch waren die Familien groß. Auch mein Mann war mit mehreren Geschwistern, diversen Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten gesegnet, die es alle zu besuchen galt. Deshalb wurde genau abgesprochen, wann wir wo zu Gast sein würden. Tagelang standen die Verwandten in ihren Küchen, kochten und brutzelten. Am Silvesterabend fanden wir uns schließlich mit allen Geschwistern beim Schwiegervater ein. Es gab verschiedene nordchinesische Spezialitäten und natürlich Jiaozi, gefüllte Teigtaschen, die zu Neujahr nicht fehlen dürften. Wir saßen um einen langen Tisch versammelt, plauderten und lachten, und der alte Herr war wieder ganz in seinem Element. In den folgenden Tagen zogen wir von einem Haushalt zum nächsten, doch trafen wir fast immer dieselben Leute, eben die Großfamilie der Kuans, was der Freude keinen Abbruch tat. Ganz im Gegenteil. Besonders eindrucksvoll war der Besuch bei einer Cousine, die in einer engen Gasse in einem typischen alten Hofhaus lebte. Die sanitären Anlagen waren abenteuerlich, und gekocht wurde in einem Schuppen im Hof. Aber das war damals normal in Beijing. Sie beheizte ihr Haus mit einem kleinen Kanonenofen, der nicht viel ausrichtete, weshalb wir unsere Mäntel anbehielten, bis uns endlich nach reichlich Peking-Ente und Schnaps warm wurde. Die Stimmung hätte dennoch gar nicht besser sein können. Das alte Viertel musste Ende der 1990er Jahre einem modernen Bürokomplex weichen. Die Cousine lebt heute dank Unterstützung ihrer Töchter in einer behaglichen modernen Eigentumswohnung.
Der rasante Wirtschaftsboom der vergangenen dreißig Jahre hat China und seine Menschen verändert, und so erlebe ich heute das Neujahrsfest auch etwas anders. Viele wohlhabende Städter – so auch einige meiner Verwandten – zieht es über die Feiertage in die Welt hinaus, beispielsweise zum Skifahren nach Kanada und in die USA oder zum Wassersport an die Strände in tropischen Regionen. Wer trotzdem daheim bleibt, sich aber normalerweise die Hausarbeit von Personal abnehmen lässt, für den können die Feiertage zur echten Herausforderung werden, denn natürlich möchten die hilfreichen Geister auch mal feiern und das wichtigste Fest des Jahres bei der eigenen Familie verbringen, wo sie dann, damit sich Reisekosten und Aufwand auch lohnen, drei bis vier Wochen bleiben. Mit tagelangen Küchenvorbereitungen mögen sich viele moderne Städter heute nicht mehr aufhalten. Lieber gehen sie essen. Gute Restaurants sind deshalb lange vor dem Fest ausgebucht. Und große Reden werden auch nicht mehr geschwungen. Stattdessen versammelt sich die Familie ab zwanzig Uhr vor dem Fernseher, um die landesweit ausgestrahlte Neujahrsshow des zentralen Fernsehsenders zu sehen, die jedes Jahr üppiger und aufwändiger, jedoch nicht unbedingt spannender ausfällt. Und auch die folgenden Abende hält es viele am Fernseher, weil sich die verschiedenen Sender mit Unterhaltungsshows gegenseitig überbieten.
Ich feiere das Neujahrsfest heute am liebsten in Deutschland im Kreis chinesischer Verwandter und Freunde, denn mir scheint, dass fern der Heimat gern an alten Traditionen festgehalten wird und man die Feiertage verbringt wie man es aus vergangener Zeit kennt: mit gegenseitigen Besuchen, fürstlichen Gelagen in großen Runden, viel Spaß und ohne Fernsehshows.
Darüber braucht ein Chinese nicht lange nachzudenken. Die Finger einer einzigen Hand reichen aus, um die bemerkenswertesten deutschen Eigenheiten aufzuzählen.
Auszug aus: „Die Langnasen“ – Was die Chinesen über uns Deutsche denken
Die Deutschen sind fleißig, diszipliniert, zuverlässig, ernst und korrekt. Das klingt ganz nach preußischen Tugenden. Kein Wunder, denn schließlich hat das preußische Deutschland jahrzehntelang das chinesische Deutschlandbild geprägt. Um 1860 begannen die offiziellen Beziehungen zwischen beiden Nationen. Seit jener Zeit gibt es in China deutsche Produkte, und man hat gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Damals begeisterten Kruppsche Kanonen die chinesischen Herzen. Mit deutscher Waffentechnik und deutschem Drill hoffte man sich gegen die eindringenden Briten und Franzosen zur Wehr setzen zu können. Heute sind es Mercedes-Benz, Siemens und andere Marken „Made in Germany“, die den Ruf der Deutschen prägen. Der pensionierte Polizeichef eines Shanghaier Stadtbezirkes bringt es auf den Punkt: „Die Deutschen? Ganz tadellose Leute. Ich habe mir vor vierzig Jahren einen deutschen Schraubenzieher gekauft. Den benutze ich noch heute. Der ist aus deutschem Stahl, und der überlebt mich sicher. Den kann ich sogar meinem Enkel vererben. Alle anderen Schraubenzieher, die ich mir im Laufe der Jahre zugelegt habe, sind aus chinesischer Produktion und längst kaputt.“
„Die Deutschen sind die geborenen Forscher“, glaubt Herr W., ein junger Informatiker aus Hubei, der noch nie im Ausland war. „Natürlich sind sie längst nicht so romantisch wie die Franzosen, aber immerhin, es sind kluge Köpfe. Einstein war ein Deutscher und Röntgen auch. Die Deutschen entwickeln hervorragende Produkte. Wir Chinesen sind dazu nicht in der Lage, weil wir nicht so akkurat arbeiten wie die Deutschen. Die Präzision hat ihre Technik berühmt gemacht. Man kann sich auf deutsche Qualität verlassen.“
Dem stimmt auch der achtzigjährige Professor Z. aus Shanghai zu. „Schon als Schüler schrieb ich mit deutschen Bleistiften der Marke Staedtler, und mein Zirkelkasten kam ebenfalls aus Deutschland. Heute schreibe ich immer noch mit Staedtler. Es sind die besten Bleistifte der Welt. Ihre Bleiminen brechen nicht.“
Viele Chinesen sind sich einig: Deutsche halten, was sie versprechen, und sie sind gut in Analyse und Logik. Doch manchmal sind die Deutschen auch erstaunlich umständlich. Sie lieben es, Einfaches kompliziert zu machen, so als würden sie sich mit der linken Hand über den Kopf greifen, um das rechte Ohr zu kratzen.