Kürzlich in Berlin beim Bummel durch den wohl sortierten Buchladen der Gesellschaft für deutsch-chinesische Freundschaft entdeckte ich zwei vertraute Gesichter: Max und Moritz. Verwundert nahm ich das kleine Reclam-Bändchen in die Hand und schlug die ersten Seiten auf. Max und Moritz auf Chinesisch. Neben den Zeichnungen des Wilhelm Busch erzählen chinesische Zeichen von Witwe Bolte, Schneider Böck und Lehrer Lämpel. Freundlicherweise wurde auch die Pinyin-Umschrift mit den vier Tönen hinzugefügt. Und den deutschen Originaltext findet man im Anhang:
„Ach, was muss man oft von bösen
Kindern hören oder lesen!
Wie zum Beispiel hier von diesen,
welche Max und Moritz hießen…“
Der chinesische Sprachfluss gefiel mir, doch stellte ich beim Lesen des ersten Streiches und beim Vergleich mit dem deutschen Text große Abweichungen zwischen Original und Übersetzung fest. Hatte da jemand sehr ungenau gearbeitet? Das Nachwort des Sinologen Rainald Simon gibt die Erklärung. Es handelt sich nämlich um keine wörtliche Übersetzung sondern um eine Nachdichtung, die von dem mehrfach ausgezeichneten Dichter Lu Yuan angefertigt wurde, und zwar tat er dies im Stile der Tang-Zeit ( 618-907), das heißt in Versen von je sieben Silben. In einem klassischen Stil also, der der strengen Regel unterliegt, nach den ersten vier Silben eines Verses eine inhaltliche Zäsur zu setzen. Rainold Simon stellt fest, dass es Lu Yuan in bewunderswerter Weise gelang, „ alle Beschränkungen der klassischen Form gekonnt aufzunehmen, sie aber mit dem heute gebräuchlichen Idiom zu füllen. Damit entsteht im Chinesischen eine zusätzliche reizvolle Spannung zwischen strengen klassischen Formelementen und dem frech anarchischen Inhalt.“
Die Streiche von Max und Moritz erschienen erstmals im Jahre 1865. Anlässlich des 125jährigen Jubiläums gab das Wilhelm-Busch-Museum, Hannover, die Übertragung ins Chinesische in Auftrag. Sie erschien 2009 im Reclam Verlag.
Eine feine Sache und ein nettes kleines Mitbringsel für an Deutschland interessierte Chinesen.
Zwei Monate lang, von Mitte September bis Mitte November 2013, war das Museum of Contemporary Art of Shanghai, MoCa, ganz dem Werk Christian Diors gewidmet. Die “ESPRIT DIOR”-AUSSTELLUNG war ein überwältigender Erfolg,die Besucherzahl famos. Der reich bebilderte Ausstellungskatalog fand so reißenden Absatz wie kein anderer zuvor in der Geschichte des Museums.
Am letzten Ausstellungstag ging ich hin, und weil es sich wohl herumgesprochen hatte, dass nach erfolgter Verlängerung die Ausstellung nun endgültig ihr Ende finden würde, herrschte riesiger Andrang. Der Geist des Christian Dior – er hatte die Shanghaier verzaubert.
Wohl in keiner anderen Stadt Chinas sind die Menschen so modebewusst wie gerade in Shanghai. Heute fällt das nicht mehr ganz so auf wie noch vor dreißig, vierzig Jahren, als der spröde Mao-Look angesagt war und es die Shanghaierinnen dennoch verstanden, sich mit kleinen Accessoires etwas schicker herauszuputzen, als es all die anderen Chinesen vermochten.
Das innovative Genie des Christian Dior – in der Shanghaier Ausstellung kam es erneut zum Ausdruck. 1947 präsentierte er in Paris seine erste Kollektion und löste damit eine Revolution in der Modewelt aus. Die Chefredakteurin von Harpers Bazaar prägte den Ausdruck von dem „New Look“, den er kreiert hatte, der Abkehr vom kargen Stil der Kriegsjahre. Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges lag erst zwei Jahre zurück. Der New Look verkörperte eine Hinwendung zur femininen Eleganz mit figurbetonten Oberteilen, schmalen Taillen und weiten Hüften mit schwingenden Röcken, dazu langen Handschuhen und Wagenradhüten.
Mehr als hundert Kleider waren in der Ausstellung zu sehen, die den New Look repräsentierten und von denen einige einst berühmte Persönlichkeiten geschmückt hatten. Zahlreiche Zeichnungen, Entwürfe, Fotos und Videosequenzen sowie Accessoires und Flakons rundeten den Eindruck von Ideenreichtum und Schaffenskraft dieses genialen Meisters der Haute Couture ab. Es wurde begeistert fotografiert und so sollte man sich nicht wundern, wenn demnächst ein paar Shanghaier Kreationen an Dior erinnern.
In diesem Sommer kamen mehrere Shanghaier Freunde nach Berlin. Einige kennen sich auf allen Kontinenten aus, sind also weit gereist. Ich fragte mich, was ich ihnen zeigen sollte, denn ich hatte mich erboten, sie herumzuführen. Das übliche touristische Programm? Nicht nötig, lehnte ein Paar ab. Es hatte sich bestens vorbereitet, wusste genau, was es sehen wollte. Die Frau hatte eine Liste aufgestellt, die sie beide allein in vier Tagen zügig abarbeiteten. Dabei ging es mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einem Punkt zum nächsten. Als das Paar schließlich abreiste, gab es mir seine Enttäuschung über Berlin zu verstehen. Die einstmals geteilte Stadt hätte es in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht geschafft, wieder zu einer harmonischen Einheit zusammenzuwachsen. Allein der Blick vom Hauptbahnhof Richtung Kanzleramt sei eine einzige öde Fläche. Und dann die so genannte Neue Mitte: eine Ansammlung von einfallslosen rechteckigen Klötzen aus Stahl, Glas und Beton. Auch die öffentlichen Verkehrmittel – wie etwa die S-Bahn – wären auf vielen Strecken völlig heruntergekommen und einer Hauptstadt nicht würdig. Einziger Lichtblick: das KaDeWe mit seiner Feinschmecker-Etage. Ihr Fazit? Berlin – muss nicht sein. Recht haben sie in vielem, das sie beanstandeten, dachte ich. Und doch…
Zwei andere Freunde mieteten sich Fahrräder und erkundeten radelnd die Stadt: bei strahlendem Sonnenschein ging es durch den Tiergarten, das alte Westberlin, die Neue Mitte, das Prenzlauer Viertel. Abends zogen sie durch Bars und Jazz-Clubs, ein Metier, auf dem sie sich bestens auskennen. Sie gewannen einen völlig anderen Eindruck, als die beiden vorgenannten Freunde. Sie werden wiederkommen. Auf jeden Fall.
Dann kam ein bekannter Journalist, der zwar schon mehrmals in Berlin war, sich aber doch noch einmal gern von mir herumchauffieren ließ, um in aller Ruhe und mit viel Zeit zum Fotografieren das touristische Programm einschließlich Potsdam abzuspulen. Nebenbei wurde auch der eine oder andere Flohmarkt besucht. Mit seinen Fotos und Kommentaren informiert er täglich eine große chinesische Fangemeinde. Sein Eindruck von Berlin? Hoch interessant und spannend. Er kommt wieder, aber das nächste Mal nicht allein und nicht nur für vier Tage, sondern gemeinsam mit seiner Frau und für mindestens drei Wochen.
Den Vogel schoss ein wohlhabender Rechtsanwalt ab, der ein großer Musikliebhaber, Hobbyhistoriker und Feinschmecker ist, sehr belesen und bestens informiert. Die Berliner Musikszene? Welch ein Vergnügen! Die echte Berliner Küche, und dann das Treffen mit Berliner Freunden an einem See im Havelland, wo es frische Wollhandkrabben gab (siehe Artikel auf dieser Seite: „Krabbenzeit im Havelland“) – ein Genuss!
Die zahlreichen Flohmärkte. Dann ein Besuch in der Gedenkstätte der Wannsee-Konferenz und in Potsdam. Er war begeistert. Und da er sich als Rechtsanwalt und Investor bestens auf dem Shanghaier Immobilienmarkt auskennt und ihn die im Verhältnis dazu niedrigen Preise in der deutschen Hauptstadt erstaunten, kaufte er kurz entschlossen gleich zwei Wohnungen in der Neuen Mitte. Denn von dort könne er zu Fuß zum Gendarmenmarkt, um Veranstaltungen im Konzerthaus und im Französischen Dom zu besuchen. Berlin ist für ihn das aufstrebende europäische Zentrum für Kunst und Kultur, wo er fortan mehrere Wochen im Jahr verbringen möchte.
Das größte Erlebnis – und nächstes Mal werde ich versuchen, jeden Besucher dorthin zu führen – war ein Konzert in der Waldbühne. Bei bestem Wetter dirigierte Daniel Barenboim sein West-Eastern Divan Orchestra. Zu hören waren Werke von Verdi, Wagner und Berlioz. Fast 15000 Menschen lauschten mucksmäuschenstill der Musik. Niemand spielte mit einem Smartphone herum oder telefonierte gar. Da staunten die Shanghaier Freunde. Ein Eindruck, den sie so schnell nicht vergessen werden.
Eine Begegnung mit Gertraud Sommer, die den Maler Zeng Mi nach Deutschland brachte.
Ich war mit meinem Mann auf Vortragsreise in Süddeutschland. Malerei stand nicht auf unserem Programm, stattdessen die aktuelle Situation in China. Trotzdem fragte mich ein Freund in München, ob ich nicht Lust hätte, mir bei dieser Gelegenheit Tuschemalerei von Zeng Mi anzuschauen. Zeng Mi stellt in München aus?, fragte ich erstaunt.
Der Maler, Kalligraph und Kunsttheoretiker Zeng Mi, Jahrgang 1935, gehört zu den bedeutendsten noch lebenden expressionistischen Tuschemalern Chinas. Er lebt und wirkt in Hangzhou. Vor Jahren bekam ich den Katalog einer Zeng Mi-Ausstellung geschenkt, die in Deutschland stattgefunden hatte. Die Arbeiten beeindruckten mich damals zutiefst, und ich bedauerte es, sie nie im Original gesehen zu haben. Leider, so erfuhr ich nun, sei Zeng Mi nicht zugegen. Aber ich könne die Frau kennen lernen, die ihn in Deutschland vertritt und die einige Bilder von ihm besitzt. So lernte ich Gertraud Sommer kennen.
1991 begleitete sie ihren Mann, einen Juristen, zu einer Tagung nach China. Diese Reise sollte ihr Leben verändern, sagt die heute achtzigjährige Dame. Die chinesische Malerei war bis dahin wie ein weißes Blatt für sie gewesen. Das änderte sich auch nicht beim Besuch des Kaiserpalastes in Beijing, wo sie wertvolle Gemälde und Kalligraphien sah. Sie wirkten wie Tapeten auf sie. Dann kam sie nach Hangzhou und dort begegnete sie Zeng Mi. Ein Zufall führte sie in sein Atelier. Vom ersten Augenschein an spürte sie eine unglaubliche Faszination. Da malte jemand, dessen Sprache sie nicht verstand, dessen kulturelle Prägung eine völlig andere war als die ihre und dessen Werk sie dennoch zutiefst berührte. Seine Bilder packten sie, gingen ihr nahe, und sie konnte es nicht fassen, dass Zeng Mi in Deutschland unbekannt war. So entstand der Entschluss, sich für seinen Ruf einzusetzen. Mit einem Dutzend seiner Bilder kehrte sie nach München zurück. Aber die Zeit war für ein Interesse an chinesischer Kunst wohl noch nicht reif. Wo immer sie um die Möglichkeit einer Ausstellung nachsuchte, erhielt sie Absagen. Gertraud Sommer fühlte sich unverstanden und verletzt. Bald wurde klar: ihr Mann und sie mussten selbst etwas unternehmen. Zunächst stellten sie Zeng Mis Werke in ihrem eigenen Reihenhaus aus und Verwandte, Freunde und Bekannte bestätigten den positiven Eindruck. Dadurch ermutigt organisierten sie im Geranienhaus des Nymphenburger Schlossparks eine Ausstellung, zu der Zeng Mi eigens mit weiteren Werken anreiste. Das Echo auf diese Ausstellung war unerwartet groß. Weitere private Ausstellungen folgten. Als dann 1997 das Museum für Ostasiatische Kunst der Stadt Köln eine bedeutende Ausstellung chinesischer Tuschemalerei plante, an der auch Zeng Mi beteiligt war, beschlossen die Eheleute Sommer, den Bildband “Zeng Mi, Chinesischer Tuschemaler der Gegenwart“ herauszugeben, um auf den Künstler aufmerksam zu machen – eben jenen Bildband, der mich später in Hamburg erreichte.
In der Folge gelang es ihnen, unter anderem Einzelausstellungen in den Ostasiatischen Museen Berlin und Köln sowie im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg und im Östasiatiska Museet, Stockholm, anzuregen. Gemeinsam mit dem Ostasiatischen Museum Berlin gaben sie in diesem Zusammenhang einen zweiten Bildband für Zeng Mi heraus.
Inzwischen ist Zeng Mi ein im In- und Ausland gefragter Künstler. Und Gertraud Sommer? Sie lebt heute umgeben von chinesischer Tuschemalerei. Unterstützt von dem jungen Künstler Liu Bing organisiert sie regelmäßig Ausstellungen und Kurse für chinesische Kalligraphie und Tuschemalerei. Nach wie vor besteht auch eine tiefe Verbundenheit zu Zeng Mi und seinem Werk. Gertraud Sommer lächelt, als ich sie auf ihr großes Engagement anspreche und antwortet: „Es waren Zeng Mis Bilder selbst, die nach Deutschland wollten. Sie haben sich nur meiner Hilfe bedient.“
Zunächst beeindruckte er mich auf der Shanghaier Opernbühne in Puccinis Tosca, später dann im Interview mit seinem fließenden Deutsch. In Hongkong hatte ich das Vergnügen, Warren Mok persönlich kennen zu lernen.
Warren Mok stammt aus einer angesehenen Medizinerfamilie. In Beijing geboren und in Südchina aufgewachsen, genoss er seine Ausbildung in den USA. Noch wenig vertraut mit seinem Werdegang sprach ich ihn auf Chinesisch an und war überrascht, als er mir auf Deutsch antwortete. Wieso er so gut Deutsch spricht? Weil er seine europäische Karriere 1987 an der Deutschen Oper Berlin begann. Sieben Jahre blieb er dort, eine Zeit, auf die er mit Stolz und Dankbarkeit zurückblickt, denn in Berlin erfuhr er seine künstlerische Prägung. Dort lernte er die weltbesten Sänger und Dirigenten kennen und verinnerlichte das europäische Kunstverständnis. Eine atemberaubende Zeit, die ihm Augen und Geist öffneten, denn in diesen Jahren erlebte er auch den Fall der Berliner Mauer, die Vereinigung Deutschlands und den Wandel in Osteuropa. 1994 kehrte er in den chinesischen Sprachraum zurück, ließ sich in Hongkong nieder und gründete eine Familie. Allerdings lassen ihm die vielen beruflichen Verpflichtungen nur wenig Zeit für sein Privatleben, denn Warren Mok ist inzwischen ein gefeierter Tenor, nicht nur in China, sondern auf allen wichtigen Bühnen der Welt, ob in Sydney, Paris, New York, Wien, Rom oder in Buenos Aires. Sein Repertoire umfasst mehr als sechzig Opernrollen. Darüber hinaus hat er sich mit seinen zwei Kollegen Wei Song und Dai Yuqiang zu den „drei chinesischen Tenören“ zusammengeschlossen, die beispielsweise letztes Jahr die Londoner in der Royal Albert Hall begeisterten.
Warren Mok verdient aber nicht nur als Sänger größte Aufmerksamkeit, denn er gehört zu jenen, die sich heute intensiv um die Verbreitung abendländischer Musik- und Operntraditionen im asiatischen Raum bemühen. So ist er künstlerischer Direktor des Internationalen Musikfestivals in Macao und der Oper Hongkong. Letztere hat er gegründet. Zudem berät er das Shanghaier Opernhaus und fördert vor allem unter jungen Chinesen das Verständnis für westliche Opern. Italiener und Franzosen haben sein Wirken inzwischen mit Preisen gewürdigt. In Deutschland scheint man sein Engagement noch nicht bemerkt zu haben.
Wieviel in Hinsicht auf Kulturvermittlung noch zu tun ist, ahnte ich während jener Tosca-Aufführung in Shanghai. Zwar bin ich daran gewöhnt, dass manche Zuschauer im Kino mit ihren Handys herumspielen, Textnachrichten abrufen und gelegentlich auch telefonieren. Aber dass dies auch während einer Opernaufführung passiert, hat mich dann doch ein wenig überrascht. In der Reihe hinter mir hörte ich plötzlich einen Mann „Wei! Wei?“ (Hallo! Hallo?) zischen. Erst glaubte ich, er meine mich, weil ich ihm vielleicht die Sicht versperrte. Aber dann sprach er weiter. „Bin gerade in der Oper. Wo treffen wir uns nachher zum Essen?“
Wenn im Publikum Smartphones aufleuchten, entgeht das auch den Sängern auf der Bühne nicht. Stört ein solches Verhalten Warren Mok nicht? Weise lächelnd beantwortet er meine Frage mit dem Hinweis auf das Beijinger Publikum. In der Hauptstadt sei man mit der abendländischen Kultur sehr vertraut. Dort käme kaum jemand auf die Idee, während einer Opernvorstellung zum Handy zu greifen. Mit den Shanghaiern und erst recht mit dem Publikum in anderen chinesischen Städten müsste man eben noch ein wenig Geduld haben. Und dann setzt er zu einer Huldigung des deutschen Publikums an. „Es ist das toleranteste der Welt. Ganz gleich welche Hautfarbe du hast und aus welchem Teil der Welt du stammst, die Deutschen sind unvoreingenommen und honorieren eine gute Leistung mit reichlich Applaus.“ Das sei keine Selbstverständlichkeit. Er arbeite gern mit den Deutschen zusammen, weil sie direkt und unkompliziert im Umgang wären. Ist man mit ihnen befreundet, dann hält eine solche Freundschaft ein ganzes Leben. Nur leider wären die Kassen im deutschen Kulturbereich so klamm. Darum fasst er zusammen: nach Deutschland gehst du wegen der Kunst, nach China, um gutes Geld zu verdienen.