Traditionelle Familienfeste sind für manch deutsch-chinesisches Ehepaar – und für andere wahrscheinlich auch – wahre Geduldsproben. Mein lieber Mann findet das deutsche Weihnachtsfest, so wie es meine Familie feiert, sterbenslangweilig, und mir geht es mit dem chinesischen Neujahrsfest ähnlich. Doch halt! So ganz stimmt das nicht.
Unvergesslich ist für mich das Neujahrsfest von 1981. Ich besuchte damals zum ersten Mal die Familie meines Mannes in Beijing. Er war nach dreizehn Jahren sozusagen als verlorener Sohn in den Kreis seiner Familie zurückgekehrt. Allein diese Tatsache machte das Fest für die gesamte Sippe zum einmaligen Erlebnis. Mein Schwiegervater war damals 85 Jahre alt, noch rüstig und ganz im Besitz seiner geistigen Kräfte. Er hatte einst im Untergrund für die Revolution gekämpft, um China von Armut und Fremdherrschaft zu befreien. Noch immer hielt ihn das Weltgeschehen in Bann, und er tat nichts lieber, als vor seinen Kindern, Nichten und Neffen belehrende Reden zu halten. Konfuzianisch geprägt lauschten die Jüngeren respektvoll und schwiegen, und erst wenn sich der alte Herr, vom vielen Reden müde geworden, zurückzog, kam die jüngere Generation in Fahrt und plauderte munter drauflos.
Schon Tage vor dem Neujahrsfest spürt man allerorten hektische Betriebsamkeit. Wohnungen und Häuser werden geputzt und mit Glückssymbolen geschmückt, mit frischen Pflanzen wie Früchte tragende Orangenbäumchen oder in Schalen gezogene blühende Narzissen. Rote und goldene Schriftzeichen werden an Fenster, Türen und Wände angebracht, und überall taucht das neue Tierzeichen des nahenden Jahres in den verschiedensten Darstellungen und Variationen auf, sei es Tiger oder Drache, Hase oder Hund. Geschenke werden vorbereitet, kleine und große, günstige und kostbare, die an Mitarbeiter, Geschäftsfreunde und alle anderen, die einem wichtig sind oder mit denen man täglich zu tun hat, verteilt werden. Nachts bekommt man in diesen Tagen oftmals kein Auge zu, weil viele junge Leute vorzugsweise zu später Stunde schon mal gern mit Feuerwerkskörpern herumknallen.
Damals, 1981, merkte man von der Ein-Kind-Politik noch nicht viel. Noch waren die Familien groß. Auch mein Mann war mit mehreren Geschwistern, diversen Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten gesegnet, die es alle zu besuchen galt. Deshalb wurde genau abgesprochen, wann wir wo zu Gast sein würden. Tagelang standen die Verwandten in ihren Küchen, kochten und brutzelten. Am Silvesterabend fanden wir uns schließlich mit allen Geschwistern beim Schwiegervater ein. Es gab verschiedene nordchinesische Spezialitäten und natürlich Jiaozi, gefüllte Teigtaschen, die zu Neujahr nicht fehlen dürften. Wir saßen um einen langen Tisch versammelt, plauderten und lachten, und der alte Herr war wieder ganz in seinem Element. In den folgenden Tagen zogen wir von einem Haushalt zum nächsten, doch trafen wir fast immer dieselben Leute, eben die Großfamilie der Kuans, was der Freude keinen Abbruch tat. Ganz im Gegenteil. Besonders eindrucksvoll war der Besuch bei einer Cousine, die in einer engen Gasse in einem typischen alten Hofhaus lebte. Die sanitären Anlagen waren abenteuerlich, und gekocht wurde in einem Schuppen im Hof. Aber das war damals normal in Beijing. Sie beheizte ihr Haus mit einem kleinen Kanonenofen, der nicht viel ausrichtete, weshalb wir unsere Mäntel anbehielten, bis uns endlich nach reichlich Peking-Ente und Schnaps warm wurde. Die Stimmung hätte dennoch gar nicht besser sein können. Das alte Viertel musste Ende der 1990er Jahre einem modernen Bürokomplex weichen. Die Cousine lebt heute dank Unterstützung ihrer Töchter in einer behaglichen modernen Eigentumswohnung.
Der rasante Wirtschaftsboom der vergangenen dreißig Jahre hat China und seine Menschen verändert, und so erlebe ich heute das Neujahrsfest auch etwas anders. Viele wohlhabende Städter – so auch einige meiner Verwandten – zieht es über die Feiertage in die Welt hinaus, beispielsweise zum Skifahren nach Kanada und in die USA oder zum Wassersport an die Strände in tropischen Regionen. Wer trotzdem daheim bleibt, sich aber normalerweise die Hausarbeit von Personal abnehmen lässt, für den können die Feiertage zur echten Herausforderung werden, denn natürlich möchten die hilfreichen Geister auch mal feiern und das wichtigste Fest des Jahres bei der eigenen Familie verbringen, wo sie dann, damit sich Reisekosten und Aufwand auch lohnen, drei bis vier Wochen bleiben. Mit tagelangen Küchenvorbereitungen mögen sich viele moderne Städter heute nicht mehr aufhalten. Lieber gehen sie essen. Gute Restaurants sind deshalb lange vor dem Fest ausgebucht. Und große Reden werden auch nicht mehr geschwungen. Stattdessen versammelt sich die Familie ab zwanzig Uhr vor dem Fernseher, um die landesweit ausgestrahlte Neujahrsshow des zentralen Fernsehsenders zu sehen, die jedes Jahr üppiger und aufwändiger, jedoch nicht unbedingt spannender ausfällt. Und auch die folgenden Abende hält es viele am Fernseher, weil sich die verschiedenen Sender mit Unterhaltungsshows gegenseitig überbieten.
Ich feiere das Neujahrsfest heute am liebsten in Deutschland im Kreis chinesischer Verwandter und Freunde, denn mir scheint, dass fern der Heimat gern an alten Traditionen festgehalten wird und man die Feiertage verbringt wie man es aus vergangener Zeit kennt: mit gegenseitigen Besuchen, fürstlichen Gelagen in großen Runden, viel Spaß und ohne Fernsehshows.