Wie es manchmal so ist: ein Freund oder eine Freundin schleppt einen mit, und plötzlich findet man sich in einer Umgebung wieder, in die man sonst wohl eher nicht so leicht hineingeraten wäre. So ging es mir in Beijing, als eine Freundin zum Essen in den „Manet Club“ eingeladen wurde und ich sie kurz entschlossen begleitete. Ich traute meinen Augen kaum angesichts dessen, was mich dort erwartete.
Betuchte Chinesen haben heute in jeder Beziehung hohe Ansprüche, und manche sind erstaunt über den oft mangelnden oder auch verstaubten Luxus europäischer Häuser. Chinesische Städte wie Beijing und Shanghai sind da ganz anders aufgestellt. Sie verfügen über eine Vielzahl von Örtlichkeiten, die diese ausgesuchte Klientel angemessen zu bedienen weiß. Natürlich sind hervorragender Service und exquisite Speisen eine Selbstverständlichkeit, ebenso ein luxuriöses Ambiente.
Diskretion ist ein Muss. Nicht jeder lässt sich gern von fremden Gästen beobachten. Für Gesellschaften jeder Art und Größe gibt es entsprechende Separees, in denen in ungestörter Atmosphäre vertrauliche Gespräche und angeregte Diskussionen geführt oder Partys gefeiert werden können. Gern gesehen ist es, wenn die gesamte Location ein hohes kulturelles Niveau ausstrahlt, denn obwohl für viele Menschen im heutigen China nur noch das Geld zählt, schätzen sie doch den Wert von Kultur. All diesen Ansprüchen wird der „Manet Club“ im nordwestlichen Haidian-Bezirk Beijings gerecht, zu dem nur Mitglieder und ihre Gäste Zutritt haben. Hier treffen sich die Erfolgreichen aus Wirtschaft, Politik und Kultur.
Die beeindruckende Anlage erstreckt sich mit weitläufigem Gebäudekomplex, Park und Wasserspielen über eine Fläche von mehr als zwanzigtausend Quadratmetern und bietet für jeden Anlass passende Räumlichkeiten: ob Tagung, Hochzeit, Privatkonzert oder trautes Essen zu zweit, ob kurzer Besuch oder mehrtätiger Aufenthalt in einer Suite mit Nutzung von Bibliotheksräumen, Spa und Fitnessangeboten. Wer Luxus sucht und ihn bezahlen kann, ist hier richtig.
Inspiriert wurden die Initiatoren von den französischen Impressionisten und dem Lebensstil, den insbesondere Edouard Manet in manchen seiner Gemälde festhielt. Dass die Kunst ein zentrales Anliegen dieses Clubs ist, bemerkt der Besucher nicht nur am vielsagenden Namen, sondern gleich nach seiner Ankunft, wenn er neben der Empfangshalle die weitläufigen Galerieräume entdeckt, die – mit ausgedienten Holzplanken alter Schiffe ungewöhnlich rustikal ausgestattet – für wechselnde Kunstausstellungen und Kunstauktionen reichlich Platz bieten.
Ganz anders dagegen die vornehmen Separees und luxuriösen Salons im übrigen Teil der Anlage, wo dicke Teppiche jeden Schritt abfedern. Im europäischen Stil üppig ausgestattet und mit Ausblick auf den schön angelegten Park bieten die Räumlichkeiten eine Atmosphäre erfrischender Stille, die ein kurzfristiges Aufatmen von der Hektik des modernen chinesischen Alltags gewähren. Den europäischen Besucher lassen sie fast vergessen, in China zu sein. Oder auch nicht, denn eine solche Häufung europäischer Klassik vom Feinsten findet man im Moment wohl nur in China.
Meine Freundin und ich waren begeistert, vor allem von den erlesenen Speisen und dem hervorragenden Wein, und dass zum Schluss die stattliche Rechnung jemand anderes bezahlte, fanden wir auch recht angenehm.
Eine chinesische Hochzeit ist immer auch eine großartige Show
Kürzlich wurde ich in Shanghai von einer Frau Lin zur Hochzeit ihres Sohnes eingeladen. „Lin“ kommt in China als Nachname etwa so häufig vor wie Müller bei uns. Dennoch handelte es sich bei dieser Familie nicht um irgendwelche, sondern um ganz besondere Lins, nämlich um die Nachfahren des großen Lin Zexu, jenes kaiserlichen Beamten, der 1839 in Kanton von den ausländischen Kaufleuten, vornehmlich den Briten, die Abgabe ihres Opiums erzwang und dies vernichten ließ. Da die Briten ihr Recht auf freien Handel als von Gott gegeben betrachteten, auch wenn es sich um Opium handelte und der Opiumhandel in China verboten war, nahmen sie die Opiumvernichtung zum Anlass, mit ihrer modernen Kriegsflotte China anzugreifen. Ihr Angriff ging als erster Opiumkrieg in die Geschichte ein und sollte für China mit einem demütigenden Vertrag und der Abtretung der Insel Hongkong an die Briten enden. Der entschlossen handelnde Lin Zexu wird noch heute in China als Nationalheld verehrt, und selbstverständlich sind seine Nachfahren ganz besonders stolz auf ihn.
Die Lins sind heute eine weit verzweigte Familie und so eilten zu dem feierlichen Anlass die Verwandten aus allen Ecken des Landes heran, einige sogar aus den USA und aus Australien. Wie den meisten Chinesen war auch den Lins, zumindest den Eltern, nicht die standesamtliche Trauung, sondern das große Festessen wichtig, zu dem sie Verwandte, Freunde und Geschäftspartner eingeladen hatten. Ein solches Festessen kann für das Brautpaar recht strapaziös sein, doch das junge Paar – beide in der Finanzbranche tätig – nahm es gelassen. Natürlich wurde – wie inzwischen in Chinas Städten üblich – in ein feines Hotel eingeladen.
Kurz nach fünf Uhr nachmittags ging es los. Das Brautpaar stand am Eingang zum Festsaal – sie in einem langen weißen Brautkleid mit Schleier und er im Smoking – und begrüßte jeden einzelnen Gast per Handschlag, was ein Fotograf eilig aufnahm. Das nahm zwar einige Zeit in Anspruch, doch schließlich saßen alle Gäste an den 21 runden Tischen à zehn Personen. Dann wurde es feierlich, denn der Bräutigam hatte sich eine kleine Überraschung ausgedacht. Er schnappte sich ein Mikrofon, trat auf die Bühne, jemand stellte eine Karaoke-Anlage an und schon schmetterte er ein Liebeslied. Daraufhin ging am Ende des Saales die große Flügeltür auf und die Braut trat herein. Singend eilte er ihr entgegen und führte sie auf die Bühne, begleitet von den Trauzeugen und Blumen streuenden Kindern. Ein Freund der Familie, ein landesweit bekannter Fernsehjournalist, gesellte sich zu ihnen auf die Bühne und übernahm die Leitung der Hochzeitszeremonie: das Austauschen der Ringe, das gemeinsame Entzünden einer Kerze als Symbol der ewigen Liebe, das Füllen einer Champagner-Pyramide und das Anschneiden der Hochzeitstorte. Dann wurde auf das Wohl des Paares angestoßen, die Gäste prosteten einander zu und griffen nach ihren Stäbchen, denn nun konnte das Festessen beginnen. Und während sich alle köstlich amüsierten, begann die Braut mit der üblichen Modenschau: Sie verschwand in einem Nebenraum und tauchte wenig später in einem langen violetten Traum aus Seide auf, um sich gebührend bewundern zu lassen. Noch zweimal sollte sie sich innerhalb der nächsten anderthalb Stunden umziehen und zunächst in einem traditionellen eng anliegenden Seiden- und zuletzt in einem knallroten kurzen Abendkleid erscheinen. Zeit zum Essen blieb dem Brautpaar kaum. Mit einer feierlichen Geste beschenkte es die Eltern und Großeltern mit Blumen als Dank für die vielen Jahre der Zuwendung und als Versprechen, ihnen im Alter beizustehen. Schließlich wanderte es noch an alle 21 Tische, um mit jedem Gast anzustoßen. Die Gäste tranken Rotwein, das Brautpaar mogelte ein wenig und stieß mit rotem Traubensaft an. Inzwischen war es halb neun und das Festessen bei seinem letzten Gang angelangt. Manche Gäste schwankten bereits leicht beschwipst, die ersten standen auf und verabschiedeten sich, und als sich zehn Minuten später auch die anderen erhoben und zufrieden plaudernd den Saal verließen, sammelte das Hotelpersonal bereits die Hochzeitsdekoration ein.
Ach ja, sah der Bräutigam denn nun dem berühmten Lin Zexu, wie wir ihn von Ölgemälden kennen, ähnlich? Eigentlich nicht. Aber das mag an Brille und Frisur gelegen haben.
Eine Stadt mit bewegter Vergangenheit und vielversprechender Zukunft
„Bei uns in Xiangyang isst man gern scharf. Deswegen haben wir wohl auch ein recht unverträgliches Temperament. Wir geraten nämlich schnell in Streit und werden leicht handgreiflich“, erzählte mir Wang, ein junger Freund. Ansonsten gebe es über seine Heimatstadt nicht viel zu berichten, fügte er hinzu, einmal abgesehen von ihrer ereignisreichen Geschichte. Im Nordwesten der Provinz Hubei und an beiden Ufern des Han-Flusses gelegen, einem der wichtigsten Nebenflüsse des Yangzi, war Xiangyang in alter Zeit von größter strategischer Bedeutung. Wer diese Stadt beherrschte, hatte Zugang zum Yangzi-Fluss und damit in den Süden des Landes. Etliche Schlachten wurden in den vergangenen zweieinhalbtausend Jahren in diesem Gebiet geschlagen. Von einigen spricht man noch heute, und sie bieten nach wie vor Stoff für Romane und Filme. Die berühmten Heldengeschichten aus der Zeit der „Drei Reiche“ (220-265) haben sich zum Teil in dieser Region abgespielt und einige der tapfersten Männer Chinas hinterließen hier ihre Spuren. Wie zum Beispiel der Gelehrte Zhuge Liang (181–234): damals ein herausragender Stratege und kluger Staatsmann und heute noch immer ein Vorbild für Weisheit und Unbestechlichkeit. Mehrere Jahre lebte er zurückgezogen in einer Hütte in Longzhong, nahe Xiangyang, um seinen Studien nachzugehen. Dreimal reiste Liu Bei, ein mächtiger Militärführer seiner Zeit, bei ihm an, um ihn als Ratgeber im Kampf gegen die rivalisierenden Kräfte zu gewinnen, ehe Zhuge endlich einwilligte und ihn bei der Gründung seines Reiches half.
„Leider ist Xiangyang heute völlig bedeutungslos. Dort passiert nicht mehr viel“, meinte der junge Freund weiter. Wang denkt wie viele Chinesen, die aus den Provinzen zum Studium in die Metropolen Beijing und Shanghai drängen. Nach ihrem Abschluss kommt für sie eine Rückkehr nicht mehr in Frage. Sie haben sich längst an das pulsierende bunte Leben in der Großstadt gewöhnt.
Trotzdem neugierig geworden reiste ich Anfang Oktober, als ganz China anlässlich des Nationalfeiertages eine Woche Urlaub machte, nach Xiangyang und war überrascht. Nicht nur von der Gastfreundschaft seiner Bewohner und den Besucherströmen, die das ehemalige Anwesen des genialen Strategen Zhuge Liang anlockt, sondern auch von der Tatsache, dass sich Xiangyang zu einem expandierenden Industriezentrum und zur führenden Automobilstadt in Zentralchina entwickelt hat. Firmen und Behörden suchen händeringend nach gut ausgebildeten Nachwuchskräften. Zwar beklagen viele Universitätsabsolventen, keine angemessene Arbeit zu finden, doch leider denken sie ähnlich wie mein junger Freund Wang, dem Xiangyang zu abseits liegt. Dabei befindet sich Xiangyang in einem rasanten Wandel und wird irgendwann wie alle chinesischen Städte geprägt sein von einer riesigen Ansammlung glitzernder Hochhäuser. Doch investiert die Stadt erfreulicherweise auch in die Erhaltung und Pflege des kulturellen Erbes. Die beeindruckende Stadtmauer und mächtige Festungsanlagen gehören heute zu den am besten erhaltenen Anlagen in China. Einst hatte die Stadt den Ruf, uneinnehmbar zu sein. Selbst die Mongolen brauchten drei Jahre, bis sie durch Blockade der Versorgungswege und durch Einsatz modernster Waffentechnik Xiangyang 1273 zur Aufgabe zwangen. Schon Marco Polo wusste von der erstaunlichen Hartnäckigkeit der Bewohner Xiangyangs zu berichten. Nur kannte er nicht den Grund dafür: das scharfe Essen.
An einem Wochenende zur Meisterschaft in chinesischer Teekunst
Im Kursangebot des Hamburger Konfuzius-Instituts entdeckte ich einen „Meisterkurs Teekunst“. Kurz entschlossen meldete ich mich an, denn als passionierte Teetrinkerin interessiert mich alles, was mit Tee zu tun hat. Mein Mann gab sich skeptisch, als ich ihm von meinem Vorhaben erzählte. „Was kannst du dort noch lernen?“, fragte er. So ganz unbegründet war seine Skepsis nicht. Auf langen Reisen durch China waren wir häufig in Gebiete gekommen, die für ihren Tee berühmt sind, so dass wir uns an Ort und Stelle über Anbau, Qualitäten und Zubereitungsmethoden informieren konnten. Auch befinden sich in unserem Freundeskreis einige Teekenner, die uns freundlicherweise mit bestem Tee versorgen und uns immer wieder in angesagte Teesalons und Teehäuser führen.
Trotzdem nahm ich an dem Kurs teil und merkte bald, dass es doch noch eine ganze Menge zu lernen gab. Mit einigen anderen Interessierten saß ich schließlich um einen langen Tisch versammelt und lauschte den Ausführungen von Bao Lili, der Tee-Fee aus Shanghai, die den Kurs leitete.
Hören wir im Westen von Teezeremonien, denken wir meist an Japan, denn in China, dem Heimatland des Tees, war die traditionelle Teekultur lange Zeit verpönt. Sie war sozusagen unter die politischen Räder geraten. Doch die alten Bräuche leben wieder auf, und es sind vor allem die jungen Chinesen, die sich auf die Suche nach ihrem kulturellen Erbe begeben. Bao Lili ist dafür ein typisches Beispiel. Sie hat die Wiederbelebung und Verbreitung der traditionellen Teekultur zur Aufgabe ihres Lebens gemacht. Dabei hatte sie zunächst ganz andere Pläne, als sie ein Englisch-Studium absolvierte. Zum Glück verstand sie es aber, ihr Interesse an Tee in berufliche Bahnen zu lenken, indem sie die Teewissenschaften in Hangzhou studierte. Heute ist sie eine staatlich anerkannte Teemeisterin, die bei vielen Gelegenheiten im In- und Ausland in die komplexe Teekultur einführt. Während der Weltausstellung EXPO 2010 in Shanghai nahm sie an mehreren Veranstaltungen teil und wurde mit dem Ehrentitel „Tee-Fee“ ausgezeichnet.
Zwei Tage intensiven Unterrichts gingen leider viel zu schnell vorüber. Insgesamt gesehen ein beeindruckendes Erlebnis verbunden mit einer Menge Spaß. Bao Lili entführte uns in die Welt des chinesischen Tees. Wir lernten die ästhetischen Prinzipien der Teekunst kennen und übten uns in den unterschiedlichen Zubereitungsarten der wichtigsten Teesorten. Schließlich absolvierten wir noch locker eine nicht ganz strenge Prüfung.
Nun bin ich also eine Teemeisterin, und natürlich wollte ich meine neuerworbenen Kenntnisse sofort unter Beweis stellen und lud dazu ein paar Gäste ein. Leider keine deutschen, die sicherlich leicht zu beeindrucken gewesen wären. Stattdessen saßen ein paar Chinesen in meinem Wohnzimmer und warteten gespannt darauf, was ich ihnen denn nun vorzaubern würde. Ich muss sagen, ich schlug mich wacker, hantierte mit Teekännchen, Bechernchen, Teeblättern und all den Utensilien herum, die zu einer anständigen Teezeremonie gehören, vergaß aber leider bei all der Aufregung, die kleinen Teebecher randvoll mit heißem Wasser auszuspülen. Ich füllte sie nur halbvoll. Prompt kam Protest. Natürlich von einer Shanghaierin, denn die nehmen es ja meist sehr genau. Von einer Meisterschaft bin ich also noch weit entfernt. Das ist klar. Aber was kann ich tun? Ganz einfach. Ich fliege nach Shanghai und begebe mich erneut unter die Fittiche von Bao Lili, der charmanten Tee-Fee, die dort eine Schule für Teekultur betreibt.
Kürzlich verkündete mein Mann gut gelaunt, er hätte sechs, sieben Freunde für den folgenden Abend zum Essen zu uns nach Hause eingeladen. Was es geben sollte, das stand auch schon fest: Jiaozi, gefüllte Teigtaschen, das Lieblingsgericht der Nordchinesen.
Sicherlich wäre ich ins Grübeln geraten, hätte es sich bei den Gästen um Deutsche gehandelt, die mit ihrem Leibgericht verwöhnt werden sollten, wobei ich mich frage, welches heute eigentlich das Leibgericht der Deutschen ist: Pizza, Schnitzel oder doch lieber Roulade? Jedenfalls hätte ich wahrscheinlich nur wenig Lust auf stundenlanges Vorbereiten verspürt und vorgeschlagen, in ein Restaurant zu gehen. Doch mein Mann hatte eben nicht sechs, sieben Deutsche, sondern sechs, sieben Chinesen eingeladen, und deshalb nickte ich nur kurz. Kein Zweifel. Das Lieblingsgericht der Nordchinesen sind Jiaozi. Und ein Jiaozi-Essen für insgesamt acht, neun Personen? Nichts leichter als das.
Jiaozi, gefüllte Teigtaschen, dürfen in Nordchina bei keinem wichtigen Anlass fehlen, weder zum Neujahrsfest, noch zum Geburtstag. Doch auch ohne wichtigen Anlass sind Jiaozi jederzeit willkommen, aber da die Vorbereitung recht aufwändig ist, müssen viele stressgeplagte Chinesen heute immer häufiger darauf verzichten. Es sei denn, sie kaufen sie tiefgefroren im Supermarkt. Aber die schmecken natürlich nicht so gut wie selbst gemachte.
Im Grunde genommen handelt es sich bei den Jiaozi um ein Arme-Leute-Essen, denn es werden nur wenige Zutaten gebraucht, die darüber hinaus noch denkbar billig sind. Der Einkauf war deshalb schnell gemacht: magerer Schweinebauch, Chinakohl, getrocknete Shitake-Pilze, ein wenig Porree und Mehl. Fertig! Am Nachmittag des nächsten Tages kam die Küchenmaschine auf den Tisch, die den Teig aus Mehl und Wasser knetete. Das Fleisch wurde durch den Wolf gedreht, das Gemüse maschinell zerkleinert, der Kohl mit Salz entwässert und ausgepresst. Schließlich wurden Fleisch und Gemüse vermischt und mit Gewürzen abgeschmeckt.
Dann trafen die Gäste ein und damit begann für alle das eigentliche Vergnügen, denn Jiaozi werden am liebsten gemeinsam im großen Kreis gemacht, so dass man herrlich dabei plaudern kann. Alle kennen das Prozedere, jeder hat es zu Hause gelernt und schon geht’s los. Um den Tisch versammelt, knetet der Eine den Teig noch einmal kräftig durch, formt Würste und reißt gleichmäßig kleine Bälle davon ab. Der nächste drückt sie platt, rollt sie mit einem Nudelholz zu dünnen, kreisrunden Fladen aus – im Durchmesser etwa acht Zentimeter breit – und wirft sie auf den Tisch. Die schnappen sich dann die anderen, platzieren jeden einzelnen auf die Handfläche, setzen einen Teelöffel Füllung drauf, klappen beide Seiten zusammen und drücken sie fest. Je nachdem wie man es von zu Hause kennt, werden kleine Fältchen oder Rundungen mit eingearbeitet. Und schon stehen die kleinen Kunstwerke in Reih und Glied auf bemehlten Platten und Tabletts. Auf diese Weise entstehen Hunderte von Teigtaschen und zwar in Windeseile, denn alle machen mit. Ist das Ende abzusehen, wird in einem großen Topf Wasser gekocht, in dem hinterher die Teigtaschen portionsweise gegart werden. Sitzen endlich alle am Tisch, reicht man zum Eintunken der Jiaozi dunklen Essig mit gehacktem Knoblauch. Wahre Nordchinesen greifen jedoch lieber nach ganzen Knoblauchzehen, von denen sie beherzt abbeißen.
Ist alles verputzt, wird abgeräumt und abgewaschen, und natürlich fassen alle wieder gemeinsam an. Und weil die freundlichen Chinesen immer sagen, dass man als Gastgeber doch völlig erschöpft sein müsste und sich deshalb ausruhen sollte, kann man dem ganzen Treiben mit einem Gläschen Wein in der Hand gemütlich zuschauen.
Schon am Ausgangspunkt unserer Wanderung bestürmten sie uns: acht junge Bauernburschen aus der Umgebung, die uns mit ihren vier Tragesesseln durch das Gebirge schleppen wollten. Sahen wir so aus, als hätten wir das nötig? Ich – für meinen Teil – besaß reichlich Wandererfahrung. Zwar lag das schon einige Jährchen zurück, aber immerhin. Mit meinen Eltern war ich viele Male in den Sommerferien durch Alpen und Dolomiten gewandert. Später, in den 1980er Jahren, erwanderte ich dann manch chinesisches Gebirge, wie den Huangshan, von dem es heißt, man könne alle anderen Berge vergessen, wenn man nur ihn gesehen hätte. Zugegeben, schon damals glaubte ich, mein letztes Stündchen hätte geschlagen, so anstrengend war die Tour. Chinesische Wanderwege führen nicht wie in Alpen und Dolomiten über mehr oder minder steile Wege, sondern über steinerne Stufenpfade. Ob im Huangshan, Emeishan oder Wuyishan, sobald es im Gebirge steil wird, geht es über Steinstufen, die uneben und unregelmäßig hoch sind.
Unser ortskundige und durchtrainierte Freund versicherte uns, dass die von ihm geplante Tour nicht viel mehr als ein längerer Spaziergang, eben ein kleiner Ausflug sein würde. So lehnten wir das Angebot der Bauern dankend ab. Sie begannen ein lautes Palaver, zeigten auf meine drei Freundinnen und mich und meinten, wir würden sicherlich schlapp machen. Freundlicherweise gingen sie im Preis auch noch etwas herunter. Ich sollte mich auf einem Tragesessel durch ein chinesisches Gebirge schaukeln lassen? Lächerlich! Nie und nimmer! Die anderen lehnten das Angebot ebenso brüsk ab. Und so zogen wir los. Jedoch folgten uns die jungen Burschen leichtfüßig, aber in gebührendem Abstand und fröhlich schwatzend in einem für uns alle unverständlichen Dialekt. Auch wir waren eine lustige Truppe von insgesamt neun Personen, die ebenfalls meist alle gleichzeitig durcheinander redeten und gestikulierten, aber manchmal hielten wir eben auch inne und blieben stehen, überwältigt von der grandiosen Landschaft: Tianmushan, das Reich der uralten und seltenen Bäume, von der UNESCO zum Biosphärenreservat erklärt. Es liegt im Westen der Provinz Zhejiang und ist für jeden, der sich auch mal abseits der üblichen Touristenpfade bewegen möchte, ein absolutes Muss. Inmitten üppiger Vegetation und schroffer Felsen stehen Baumriesen, deren Stämme sich nur von mehreren Personen mit ausgestreckten Armen umfassen lassen. Ginkgo, Bambus, Goldlärchen, Tulpen- und Kuchenbaum und vieles mehr sind zu sehen. Wer hier wandert, kommt zur Ruhe und verstummt in Ehrfurcht vor der atemberaubenden Natur. Außer man hat acht gutgelaunte Bauernburschen im Rücken. Mehrmals baten wir sie, doch lieber umzukehren. Wir würden ihre Dienst sowieso nicht in Anspruch nehmen. Sie lachten nur und blieben uns auf den Fersen, denn sie wussten es besser.
Nach zwei Drittel der Tour kam nämlich doch der Moment, an dem die erste von uns älteren Mädels glaubte, keinen Schritt mehr über Stock und Stein kriechen zu können, und schließlich saßen wir alle vier in den Tragesesseln, übrigens zum gleichen Preis, den wir schon am Ausgangspunkt der Wandertour hätten zahlen können, und dennoch waren wir unglaublich dankbar, dass sich die freundlichen Jungs nicht hatten abschütteln lassen. Auch wenn uns das viel Spott von unseren Männern eintrug.
Die Dorfvorsteherin raucht Kette, ihr Blick ist hellwach. Auszüge aus unserem Buch „Pulverfass China“:
140 Familien leben in ihrem Dorf, insgesamt 450 Einwohner. Früher war es eins der ärmsten Dörfer in der Umgebung von Beijing, heute zeigt es sich dem unangemeldeten Besucher als schmuckes, blitzblankes Örtchen. Die Häuser sind fast alle geschmackvoll renoviert und weitgehend im niedrigen traditionellen Baustil angelegt.
„Hier lebten noch nie viele Menschen, aber wir verfügten immer über viel Boden. Durch den traditionellen Weizenanbau verdienten wir nichts, weil die staatlichen Ankaufspreise zu niedrig waren. Als die Reformpolitik begann, haben wir lange darüber nachgegrübelt, wie wir wohl zu Wohlstand kommen könnten. Ab 1990 begannen wir Bäume zu pflanzen. Das war damals ein gutes Geschäft, weil Bäume besonders zur Begrünung der Städte sehr gefragt waren. Aber dann pflanzten plötzlich alle Bauern in der Umgebung Bäume, so dass es bald ein Überangebot gab und die Preise fielen.
Dann fingen wir an, unser Land zu verpachten. Zunächst siedelte sich eine Beijinger Fleischverarbeitungsfirma bei uns an. Später kamen Hightech-Firmen hinzu. An den Pachteinnahmen werden alle beteiligt. Durch die Nähe zur Hauptstadt bieten sich gute Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit dortigen Betrieben. Zum Beispiel haben wir gemeinsam mit einer Supermarktkette einen Betrieb gegründet und 150 Gewächshäuser angelegt, in denen Gemüse gezogen wird. Sechzig Prozent des Gewinns gehen an uns, vierzig Prozent an die Beijinger Firma. Die Qualität unseres Gemüses wird regelmäßig vom Staat geprüft. Wenn schädliche Rückstände nachgewiesen werden, wird das schwer bestraft. Deshalb achten wir sehr auf die Qualität, und bisher gab es noch keine Beanstandungen.
Trotz der vielen Verpachtungen haben wir immer noch genügend freies Land, das wir für den Eigenbedarf bewirtschaften können. Neben Getreide ziehen wir Obst und Datteln, züchten Fische, Schweine und Schafe. Die meisten jungen Leute arbeiten in nahe gelegenen Fabriken. Wenn wir alles zusammen rechnen, haben unsere Dorfbewohner ein Basiseinkommen von 3700 RMB pro Jahr und Kopf, unabhängig davon, ob sie in der Stadt oder hier auf dem Land arbeiten. Nicht enthalten in dieser Summe sind die selbst erwirtschafteten Einkünfte und die Löhne. Letztere sind individuell sehr unterschiedlich, je nachdem, wer wo arbeitet. Insgesamt gesehen leben wir hier weitgehend autark und brauchen nicht viel Geld zum Unterhalt. …
Die Reformpolitik hat in unserem Dorf bewirkt, dass die Bauern außer für die Eigennutzung kein Land mehr bewirtschaften. Sie haben es dem Kollektiv zur Verpachtung überlassen. Das hat jeder Familie große Vorteile gebracht. Die Bauern sind zufrieden. Viele haben sogar ein eigenes Auto. Insgesamt gibt es vierzig Autos in unserem Dorf. Manche Leute fahren sogar mit ihrem Privatwagen zur Arbeit in die Stadt. Es gibt natürlich bessere Dörfer als unseres. Ich kenne eins in der Region mit tausend Einwohnern und dreihundert Autos. Aber verglichen mit den Dörfern in den Bergen geht es uns hervorragend. Die entlegenen Gebiete können nicht mit den stadtnahen konkurrieren. Denen geht es längst nicht so gut wie uns. …
Ich stamme aus einer sehr armen Familie. Als ich acht Jahre alt war, hat mich mein Vater in dieses Dorf verkauft. Wenn ich zurückblicke, erscheint es mir selbst fast unglaublich, was vor 1949 alles passiert ist. Ich habe nicht viel gelernt, ich habe immer nur gearbeitet. Bis heute bin ich eine halbe Analphabetin. Was ich kann, habe ich durch meine Arbeit gelernt.
Mir liegt die Bildung der jungen Menschen am Herzen. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass jede Familie einen Internetanschluss hat. Das gehört für mich zu den Voraussetzungen einer guten Bildung. …
Insgesamt gesehen konnten die Reformen in der Landwirtschaft jedoch nicht verhindern, dass es wieder Unterschiede zwischen Arm und Reich gibt. Einige Bauern waren zu Beginn der Reformen mutiger als andere, vielleicht waren sie auch vorausschauender. Sie haben anderen das Nutzungsrecht an deren Boden abgekauft, und jetzt verpachten sie ihn. Zunächst hieß es, dass sich an den Nutzungsrechten fünfzehn Jahre lang nichts ändern würde. … Inzwischen sind sie vererbbar geworden. Das bedeutet, dass Bauern, die das Nutzungsrecht an einem Stück Land verkauft haben, es nie mehr zurückerhalten, während andere das Land gewinnbringend verpachten können oder auf ihren zugekauften Flächen Obst und Gemüse pflanzen und wahnsinnig viel Geld verdienen. Das sorgt für viel Unmut. Die neuen Bodengesetze enthalten also noch viele Probleme. Wie man die lösen soll, weiß ich nicht, aber ich bin davon überzeugt, dass unserer Regierung etwas einfallen wird.“
Guanyin, die beliebteste Gottheit des chinesischen Buddhismus, lockt Millionen Besucher zum Archipel der 1390 Inseln. Auch Karl Gützlaff, ein deutscher Missionar, war schon dort gewesen, allerdings nicht um Guanyin anzubeten.
Kürzlich rief mich eine Frau an, die in Zhoushan zu Hause ist. Gleichnamiger Archipel befindet sich mit seinen 1390 Inseln vor der Küste der Provinz Zhejiang im Ostchinesischen Meer. Ich kannte die Frau nicht. Sie aber kannte meinen Mann und mich, denn sie hatte mehrere Artikel und Bücher von uns gelesen. Außerdem war sie eine gute Bekannte eines uns vertrauten Bekannten. Sie wollte uns gern persönlich kennen lernen und fragte, ob wir nicht Lust hätten, sie auf der Insel zu besuchen. Nach Rücksprache mit unserem vertrauten Bekannten nahmen wir die Einladung an, denn in China gilt, dass deine Freunde auch meine Freunde sind. Außerdem wollte ich schon seit langem mal wieder nach Zhoushan fahren. Knapp dreißig Jahre zuvor war ich schon einmal dort gewesen, auf Putuoshan, einer Berginsel, die zu dem Archipel gehört und als einer von vier heiligen buddhistischen Bergen in ganz China verehrt wird. Damals war der Besuch mit einer beschwerlichen Anreise verbunden. Von der Hafenstadt Ningbo aus ging es auf einer wenig Vertrauen erweckenden Fähre fünf Stunden lang durch unruhige See. Nur wenige Besucher verirrten sich damals dorthin, wo die Zeit still zu stehen schien, und so herrschte an den heiligen Stätten von Putuoshan eine wahrlich himmlische Ruhe. Ein bis heute unvergesslicher Eindruck. Auch wenn sich Tempel und Klosteranlagen nach Jahrzehnten der Vernachlässigung und Zerstörung in einem meist bedauernswerten Zustand befanden.
Diesmal erfolgte die Anreise von Shanghai aus per Flugzeug, und in nur wenigen Minuten erreichten wir unser Ziel. Wir hätten auch mit dem Auto fahren können, denn inzwischen ist Zhoushan über mehrere gigantische Brückenkonstruktionen mit dem Festland verbunden.Frau Liu empfing uns mit Fahrer und großer Limousine. Sie war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, Anfang sechzig und eine überaus gepflegte Erscheinung. Von der Unterbringung bis zur Verpflegung hatte sie alles aufs Beste vorbereitet. Zunächst erfrischte sie uns mit köstlichem grünem Tee, und dann ging es auch schon in ein feines Meeresfrüchterestaurant. Der Fischfang hat in dieser Region von jeher eine herausragende Rolle gespielt, denn Zhoushan zählt zu den wichtigsten Fischereigebieten Chinas. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich die Einheimischen hervorragend auf die Verwertung und Zubereitung von Meeresfrüchten verstehen. Eine Spezialität sind Gelb- und Tintenfisch, die überall frisch und in den verschiedensten Variationen angeboten werden. Die wirklichen Kenner unter den Besuchern kaufen getrocknete Meeresfrüchte, weil diese ganz besonders schmackhaft und lange haltbar sind.
Ich hatte schon geahnt, dass dreißig Jahre Öffnungs- und Reformpolitik Zhoushan enorm verändert haben müssen. Moderne Gebäude, breite Straßen und viele Autos sind inzwischen auch in der chinesischen Provinz eine Selbstverständlichkeit. Doch was war mit Putuoshan geschehen, jenem religiösen Heiligtum? Die Berginsel ist dem Bodhisattva Guanyin geweiht, einer ursprünglich indischen männlichen Gottheit, die seit dem zehnten Jahrhundert in China als weibliche Erscheinung verehrt wird. Sie verkörpert Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Weisheit und Liebe. Es sind vor allem die Frauen, die sie verehren und lieben, denn sie hilft bei der Suche nach einem geeigneten Ehemann oder auch wohlhabendem Schwiegersohn, sie spendet Kindersegen und steht den Wöchnerinnen bei. Guanyin ist die populärste Gottheit des chinesischen Buddhismus.Wahrscheinlich ließen sich die Leute von Zhoushan von jenen in Wuxi, in der Provinz Jiangsu, inspirieren, die eine 88 Meter hohe Sakyamuni-Buddha-Statue errichteten und damit gewaltige Besucherströme anlocken. Sie stellten ebenfalls eine imposante Skulptur auf, natürlich eine Guanyin, wenn auch nur von bescheidenen 20 Metern Höhe, die es aber mit Lotosthron und Sockel auf immerhin 33 Meter bringt. Seitdem strömen auch hier aus nah und fern Besucher herbei, jedes Jahr mehrere Hunderttausend – wenn nicht gar Millionen -, denn die Stätte gilt inzwischen als „ling“, als besonders wirksam, das heißt, dass dort geäußerte Wünsche und Sehnsüchte oft in Erfüllung gehen. Von himmlischer Ruhe ist heute auf dem Putuoshan – zumindest tagsüber – nicht mehr viel zu spüren, dafür sorgen schon allein die Fremdenführer, die mit Megaphonen bewaffnet ihre Besuchergruppen über alles Sehenswürdige informieren und sie durch die renovierten und herausgeputzten Tempel- und Klosteranlagen schleusen. Sogar einige Mönche bedienen sich inzwischen der Megaphone, wenn der Ansturm der Gläubigen zu groß ist.
Aber Zhoushan ist nicht nur als religiöses Zentrum interessant. Auch von der Historie gibt es manch Bemerkenswerte zu berichten. Der Archipel war in vergangenen Zeiten von strategisch höchster Bedeutung, denn von den Inseln aus ließ sich nicht nur die Yangzi-Mündung kontrollieren, sondern auch ein weiter Teil der chinesischen Küste und damit die Schifffahrtswege nach Norden und Süden. Das wussten auch die Briten, als sie um 1840 China zur Öffnung des Landes zwingen wollten, um ungehindert indisches Opium verkaufen zu können. Der chinesische Kaiser hatte den Opiumhandel verboten und die ausländischen Händler des Landes verwiesen. Nur in Kanton durften sie mit lizensierten chinesischen Kaufleuten Handel treiben und sich in einer Enklave einen Teil des Jahres aufhalten. Doch die enormen Renditen des Opiumhandels waren viel zu verlockend, als dass man bereit gewesen wäre, sich dem Verbot zu beugen, und so blühte ein reger Schmuggel. Natürlich war den Händlern klar, dass sie bei freien Handelsmöglichkeiten wesentlich höhere Gewinne erzielen könnten. Ein Grund für sie, die Öffnung der Märkte zu erzwingen. Tatkräftig unterstützt wurden die Briten von dem Deutschen Karl Gützlaff, der als umstrittenste Gestalt unter den westlichen China-Missionaren gilt. Er war besessen von der Idee, China noch zu seinen Lebzeiten zu christianisieren, und da er glaubte, dass allein durch die Lektüre christlicher Texte die Herzen der Chinesen für das Wort Gottes geöffnet werden könnten, tat er alles, um möglichst viele chinesischsprachige Traktate unter der einheimischen Bevölkerung zu verteilen. Gützlaff beherrschte mehrere chinesische Dialekte und war ein Meister der Verkleidung. So gelang es ihm trotz Einreiseverbots für Ausländer, 1831 als Chinese verkleidet an Bord eines chinesischen Seglers die Küsten von Süden bis hinauf in den Norden zu bereisen und genau zu erkunden. Seine auf diese Weise gewonnenen Detailkenntnisse zum Küstenverlauf waren für die ausländischen Opiumschmuggler von unschätzbarem Wert. So trat Gützlaff denn auch bald in die Dienste der britischen Opiumhändler Jardin & Matheson. Mit ihm an Bord der hoch gerüsteten Schiffe machten die Opiumschmuggler überwältigende Gewinne. Später war Gützlaff auch mit von der Partie, als die britische Kriegsflotte 1840 zur gewaltsamen Öffnung des chinesischen Kaiserreichs ansetzte und die Küste hinauf Richtung Norden segelte. Nur er kannte die strategische Bedeutung Zhoushans. Die Insel wurde deshalb besetzt und eine Garnison zur Kontrolle der Yangzi-Mündung abkommandiert. Und während die britische Flotte weiter gen Norden zog, blieb einer als britischer Magistrat auf Zhoushan zurück: der Deutsche Karl Gützlaff. Später machte er einen weiteren Karrieresprung. Er übernahm beim britischen Gouverneur der frisch gegründeten Kolonie Hongkong das Amt des chinesischen Sekretärs.
Frau Liu nahm sich Zeit und Muße, uns drei Tage lang mit der Inselwelt vertraut zu machen. Sie hatte Kuans autobiographischen Roman „Mein Leben unter zwei Himmeln“ gelesen, und vieles darin erinnerte sie an ihre eigenen schmerzlichen Erfahrungen während der Zeit der politischen Massenkampagnen. Aber ist das ein Grund, fremde Menschen gleich für ein paar Tage einzuladen und zu betreuen? Für die Chinesen ja. Die chinesische Gastfreundschaft kann überwältigend sein.
Das Internet hat in China mehreren Hundertmillionen Menschen die Möglichkeit gegeben, direkt Informationen auszutauschen. Dadurch ist eine mächtige Internet-Öffentlichkeit entstanden, die die Regierung durchaus zu Zugeständnissen zwingen kann. Auszüge aus dem Buch „Pulverfass China“:
Nicht um das Recht auf freie Meinungsäußerung oder um Informations- und Pressefreiheit ging es der Regierung, als sie den Zugang zum Worldwideweb freischalten ließ, sondern um den Anschluss an die Weltwirtschaft. Digitale Kommunikationsmittel zählten zu den Voraussetzungen, ohne die die chinesische Wirtschaft niemals den Höhenflug der vergangenen Jahre hätte schaffen können. Keiner der Regierenden ahnte damals, dass damit eine neue kritische Öffentlichkeit geschaffen würde: die Internet-Öffentlichkeit. Für Millionen Menschen wurde die direkte Kommunikation möglich. Jeder dritte Chinese hat heute Internet-Zugang, etwa 420 Millionen Menschen.
Die Möglichkeiten, die das Internet bietet, werden quer durch alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten in überwältigendem Maße genutzt. Für die in den 1980er und erst recht in den 1990er Jahren Geborenen ist der Umgang mit den modernen internetgestützten Massenmedien eine Selbstverständlichkeit. Auch die Leute mittleren Alters sind online, und als wir in Beijing eine Seniorenresidenz besuchten, sahen wir selbst Hochbetagte stundenlang vor ihren Laptops sitzen.
Für die Chinesen ist das Internet zum wichtigsten Medium geworden. Presse und Fernsehen sind abgehängt, denn im Vergleich zu den Nachrichten der regierungsabhängigen Massenmedien ist das Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt der Nachrichten aus dem Netz wesentlich größer. …
Beeindruckend für alle ist die Geschwindigkeit, mit der sich Nachrichten im Internet verbreiten. Während in den Zentralen von Presse, Radio und Fernsehen noch beraten wird, ob und wie man über Katastrophen, Skandale und Unglücksfälle berichtet, ist die Netzgemeinde längst informiert. Im Internet findet heute der Kampf gegen Kaderwillkür, Korruption und andere Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft statt.
Am Internet wird nicht nur die Möglichkeit geschätzt, Informationen schnell weiterzugeben, sondern vor allem auch, anonym Kritik üben zu können. Faszinierend für die Nutzer und Furcht erregend für die Regierung ist die Tatsache, dass sich Hunderttausende von Menschen allein per Mausklick erreichen lassen. Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden diskutiert, Umweltprobleme und Arbeitslosigkeit debattiert. Augenzeugenberichte von Unglücksfällen und Katastrophen werden verbreitet, ebenso Informationen über Korruption und Vetternwirtschaft ausgetauscht. Regimekritiker kommen zu Wort, Diskussionen über Menschenrechte und Demokratie sind möglich. Skandale wie jener über verunreinigte Milch lassen sich nicht mehr so einfach vertuschen. Beängstigende Informationen können auf diesem Wege soziale Unruhen auslösen. Aus schwachen Gegnern der zentralistischen Staatsgewalt und aus vereinzelten Stimmen macht das Internet eine ernstzunehmende Größe, weil sich die Menschen im Netz zusammenschließen können. …
Die Internet-Öffentlichkeit hat inzwischen eine Macht erreicht, die die Regierung durchaus zu Zugeständnissen zwingen kann. Die Behörden tun alles, um die Netzwerke zu kontrollieren. Jedoch lässt sich der Zugang zu Informationen nur erschweren, verhindern lässt er sich nicht. …
Chinas Ein-Kind-Politik – oder – Wenn alle Hoffnungen und Erwartungen von Eltern und Großeltern sich auf ein Kind konzentrieren
Auszüge aus dem Buch „Pulverfass China“:
Auf dem Land setzen die Bauern wegen mangelnder Renten auch weiterhin zur Altersvorsorge auf Nachwuchs. Anders in den Städten, wo die Ein-Kind-Politik dank sicherer Renten durchgesetzt werden konnte. Dort lastet auf den Einzelkindern ein gewaltiger Erfolgsdruck.
Frau P., 64, pensionierte Lehrerin, Guangzhou: „Der heutigen Jugend geht es finanziell wesentlich besser als uns damals. Aber gefühlsmäßig geht es ihr schlechter. Sie ist von vielen Dingen abhängig. Wir hatten früher weder Handy noch Computer, SMS oder MSN. Wir mussten bei den Leuten persönlich vorbeigehen, wenn wir sie sprechen wollten. Wir mussten auch alles selber mit der Hand schreiben. Heute sitzen die jungen Leute einsam zu Hause vor ihren Computern und unterhalten sich mit Menschen, die sie nicht persönlich kennen. An den Schulen sind sie großem Druck und Konkurrenzkampf ausgesetzt. Das kannten wir früher nicht. Heute haben die Schüler kaum noch Freizeit. Es wird ihnen unglaublich viel Wissen vermittelt. Doch lernen sie eigentlich nur mit dem Ziel, diese elende Hochschuleintrittsprüfung zu bestehen. Sie werden viel zu wenig auf ihr späteres Leben und die Erfordernisse des Arbeitsmarktes vorbereitet. Unsere Lehrpläne sind veraltet, die Klassen überfüllt und die gesamte Lehrmethode den modernen Zeiten nicht angepasst.“
Die Generation der Einzelkinder hat kein gutes Image. Sie gilt als verwöhnt, egoistisch und oberflächlich. „Kleine Kaiser“ nennt man sie, denn sie herrschen über Eltern und Großeltern. Nicht mehr das älteste Mitglied der Familie ist das Oberhaupt, sondern der kleine Kaiser. Eltern und Großeltern nehmen ihm alles ab und machen ihn auf diese Weise häufig lebensuntüchtig.
Vom Kindergarten bis zur Universität hat man sie immer nur auf die Aufnahmeprüfung der nächsten Stufe vorbereitet. Im Kindergarten auf den Eintritt in die Grundschule, von dort in die Mittelschule und dann in die Universität. Alles wurde ihnen eingetrichtert, aber die wirklich wichtigen Dinge im Leben wie Anstand und gute Manieren – so beklagen es viele Ältere – hätten die jungen Leute nicht gelernt. Deshalb wird sogar im Fernsehen darüber diskutiert, wie man den jungen Leuten nach ihrem Universitätsabschluss noch gute Umgangsformen beibringen kann. Denn eigentlich gehörten sie noch einmal in den Kindergarten. …
Was denken die vielgescholtenen Einzelkinder über ihre Situation? Wir haben einige Stimmen gesammelt: …
H., 22, arbeitsloser Universitätsabsolvent, Shanghai: „Wir jungen Leute sind gut erzogen und bestens ausgebildet. Man hat uns immer gesagt, dass man verantwortungsbewusst und rücksichtsvoll gegenüber anderen sein soll, und jetzt merken wir, dass die Gesellschaft ganz anders funktioniert. Das haben wir nicht erwartet, und deshalb sind viele junge Leute enttäuscht. Es gibt keine Moral mehr und von Tugenden will auch niemand etwas wissen. Ständig hört man von Ungerechtigkeiten, von korrupten Beamten, betrogenen Bauern und verzweifelten Opfern der Umweltverschmutzung. Wo ist die Menschlichkeit geblieben, wo sind die guten Werte, die Tugend und die Moral? Man soll doch ein rechtschaffener Mensch sein. Wer anderen schadet, sollte dafür bestraft werden. Überall fehlt es an Mitleid und Zivilcourage. Es gibt keine Menschenliebe mehr. Auch nicht im medizinischen System. Deshalb ist es in manchen Krankenhäusern schon zu Schlägereien gekommen, weil die Angehörigen der Patienten den Ärzten Verantwortungslosigkeit und mangelnde Anteilnahme vorwerfen.
Heute ist oft zu hören, dass die Universitätsabgänger lieber noch einmal den Kindergarten besuchen sollten, um grundlegende Umgangsformen zu lernen. Das ist ein großes Vorurteil. Man behauptet, wir Einzelkinder wären egoistisch. Das stimmt nicht. Für uns sind unsere Cousins, Cousinen, Freunde und andere Verwandte wie Geschwister. Wie nett und uneigennützig waren die jungen Leute, die während der Olympiade ehrenamtlich geholfen haben. In dieser Hitze und dem Massenandrang haben sie wochenlang ausgehalten. Ich habe viele von ihnen gesehen, wie sie geduldig ihr Bestes gaben, Stunde um Stunde, und immer mit freundlicher Miene. Solche jungen Leute sollen unerzogen sein? Da besteht wohl ein großes Missverständnis. Wir jungen Leute haben keinen Krieg und keine Unruhen erlebt. Trotzdem sind wir nicht glücklich. Wir machen uns Sorgen um unsere Zukunft. Viele Schulen und Universitäten bieten keinen guten Unterricht. Der Druck ist groß und viel Fleiß wird uns abverlangt, aber was lernen wir? Die Kulturrevolution wirkt immer noch nach. Wir lernen beispielsweise die Geschichte der Kommunistischen Partei auswendig, aber wir erfahren nichts über unsere Traditionen und alte Kultur. Es bieten sich auch kaum alternative Möglichkeiten für uns. Es gibt zu wenig Jobs, die unserer Ausbildung entsprechen, und oft bekommt man sie nur über Beziehungen. Und dann die Umweltverschmutzung! Ich frage mich immer, wie einige Leute die Umwelt nur so verschmutzen können.
In China ist das Denken der Menschen noch immer feudalistisch geprägt. In der Familie gibt es ein Oberhaupt, im Dorf auch, wieso dann nicht auch im Land? Früher wünschten sich die Leute einen guten Kaiser, heute einen guten Präsidenten. Bis heute wissen die Chinesen nicht, was ein Bürger ist und was Bürgerrechte sind. Ich habe mal einen griechischen Spruch gelesen. Der lautete in etwa so: Erst wenn du Wissen hast, weißt du was Moral und Tugend bedeuten. Hier gibt es nicht viele Menschen, die das wissen, oder sie wissen es, setzen sich aber darüber hinweg.
Die Wurzel der Gesellschaft ist der Mensch. Die Kommunistische Partei besteht aus Menschen und kann deshalb auch nur so gut sein wie die Menschen, die ihre Mitglieder sind.“ China kann sich nur ändern, wenn jeder bei sich selbst anfängt. Demokratie fängt bei jedem einzelnen an.“