Erster Teil der bisher unveröffentlichten Reisenotizen des Hans-Wilm Schütte, der heute zu den meistgelesenen deutschen Chinaautoren gehört.
Meine erste Reise in die VR China erfolgte erst im März 1979. Aufzeichnungen davon besitze ich nicht mehr, aber ausgerechnet über diesen Kurztripp von Hongkong über die Grenze – hin mit dem Flieger, zurück mit der Bahn, dazwischen nur zwei Übernachtungen – über diesen belanglosen Ausflug also haben schon Tausende von Menschen gelesen, und zwar in den Lebenserinnerungen meines Lehrers und Kollegen Kuan Yu-chien: Mein Leben unter zwei Himmeln.
Der Text scheint mir als Einstieg geeignet, weil er die Zerrissenheit spüren lässt, die Maos kulturrevolutionäre Politik in China angerichtet hatte. Zerrissen waren die Familien der Intellektuellen durch die Landverschickung, zerrissen waren die Seelen der Städter durch die politischen Kampagnen, zerrissen waren die chinesischen Traditionen durch eine völlig willkürliche revolutionäre Bewegung, die lediglich der Idee eines Mannes, eben Mao Zedongs, entsprungen war.
Zwei Tage blieben wir in Kanton, wurden dort zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten geführt, unternahmen auch auf eigene Faust kleine Rundgänge und sprachen mit den Menschen, die wir hier und da kennen lernten. Die kurze Zeit hinterließ tiefe Eindrücke. Ich spürte, dass sich die Menschen noch nicht von der Kulturrevolution erholt hatten. Die allgemeine Atmosphäre war unheimlich und bedrückend. Die Straßen erschienen mir trostlos und dunkel, und ähnlich deprimierend wirkten die Menschen in ihrer dunkelblauen Einheitskleidung. Es gab kaum Läden. Wir gingen in eine Buchhandlung. Ein paar trübe Neonröhren warfen dort ihr spärliches Licht auf ein kümmerliches Sortiment. Außer Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Zedong und ein paar Geschichtswerken gab es praktisch nichts zu lesen. Nur wenige Kunden standen in dem Laden, niemand kaufte etwas. Wir gingen in ein Restaurant, das mir noch von früher als eins der besten in Kanton bekannt war. Allein der Eingangsbereich war so schmutzig, und die Kellner waren derart unfreundlich, dass ich mich vor meinen Studenten und Kollegen richtig schämte. Was war nur aus China geworden! Es erschien mir so rückständig und so unerträglich, dass ich Kanton am liebsten so schnellwie möglich wieder verlassen hätte. Aber der Rest der Gruppe sah das anders. Da sie alle Sinologen waren, kamen sie mit ganz anderen Augen nach China als ich. Sie fühlten sich zwar auch nicht wohl, waren aber neugierig und beobachteten alles mit großem Interesse.
Was Kuan hier für 1979 zu Recht konstatiert, galt auch noch bei meiner ersten Rundreise durch China. Das war eine organisierte Tour, die ein Hongkonger Reisebüro organisiert hatte und unter anderem nach Shanghai und Peking führte. In Peking waren die Hotelkapazitäten damals allerdings derart begrenzt, dass die Gruppe in Tianjin nächtigen musste. Als ich dort nach der Ankunft einen kleinen Bummel durch die Umgebung unternahm, begegnete mir mein früherer Kommilitone Harald Richter, der bei der deutschen Botschaft arbeitete und just am selben Tag wie auch ich zum ersten Mal in Tianjin war. Das war also, wie wenn man von Hamburg nach Bremen fährt und dort auf dem Markt einem Freund begegnet, der gerade aus Madrid angekommen ist. Ich wollte dann die Gelegenheit nutzen, mich für einen Tag von der Gruppe absentieren und bei ihm in Peking übernachten, um mir die Hin- und Herfahrerei zwischen Peking und Tianjin zu sparen. Das war nun allerdings keine leichte Sache, denn damals, 1980, war alles noch streng bürokratisch geregelt. Auch Chinesen brauchten außer einer Fahrkarte stets eine Genehmigung zum Reisen im Land selbst bzw. einen entsprechenden Ausweis. Der chinesischen Reiseleiterin habe ich mit meinem naiven Wunsch damals das Leben ganz schön schwer gemacht. Ich musste dann auch selbst mitkommen zur Polizei, um die Genehmigung für eine Zugfahrt nach Peking zu erhalten. Schließlich ging aber alles glatt, und ich bin nicht mal kontrolliert worden – von der Fahrkartenkontrolle natürlich abgesehen.
Damals waren Ausländer zumindest in Tianjin noch derart selten, dass das Zufallstreffen mit meinem früheren Kommilitonen einen riesigen Menschenauflauf auslöste. Dabei taten wir nichts anderes, als uns am Straßenrand angeregt zu unterhalten. Der Kreis der Neugierigen schwoll derart an, dass die Straße blockiert wurde und die Polizei kommen musste, um den Auflauf zu zerstreuen. Uns beiden machte man allerdings keinen Vorwurf.