Im Norden Chinas liegt oft noch Schnee, in den südlicheren Regionen kann es regnen, häufig weht ein feuchtkalter Wind, der unangenehm in Glieder und Gelenke fährt, und doch sind im ganzen Land Millionen von Menschen auf den Beinen, wenn jedes Jahr aufs Neue das gleiche Wunder geschieht: Aus scheinbar verdorrten und abgestorbenen Zweigen knorriger alter Bäume und zerzauster Sträucher sprießen zarteste Blüten hervor und verwandeln Hügel, Park- und Uferanlagen in ein lieblich duftendes Blütenmeer.
Die Winterpflaume! In China geliebt und hoch verehrt, von unzähligen Dichtern und Malern besungen und getuscht. Sie steht für unbändige Lebenskraft, für das Wiedererwachen der Natur, denn sie kündigt den nahenden Frühling an. Stolz und standhaft trotzt sie Frost und Schnee, genau wie ihre beiden Gefährten, die Kiefer und der Bambus. Zusammen werden sie die „drei Freunde des strengen Winters“ genannt. Vorbildliche Eigenschaften schreibt man der Winterpflaume zu, wie Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit und Ausdauer. Deshalb nennen viele Eltern ihre Töchter nach ihr, in der Hoffnung, diese mögen sich ebenso vorbildlich entwickeln.
Es ist vor allem ihre makellose Schönheit, die die Pflaumenblüte so einzigartig macht. Leider währt die Zeit ihrer vollen Entfaltung nur kurz. Umso mehr bemüht man sich im ganzen Land, dieses Ereignis mit verschiedensten begleitenden Veranstaltungen gebührend zu feiern. Ein paar befreundete Maler fragten meinen Mann und mich, ob wir Lust hätten, sie übers Wochenende zum Pflaumenblüten-Festival in den Chaoshan Hügeln nahe Hangzhou zu begleiten. Natürlich hatten wir Lust.
Schon seit alters gibt es in China einige Regionen, die für ihre Pflaumenblüte besonders berühmt sind. Viele neue Gebiete sind in den letzten Jahren hinzugekommen und sie alle wetteifern heute um den Ruf der schönsten Pflaumenblüte. Auch in Chaoshan hat man sich mächtig angestrengt und viel Geld investiert, um in dem insgesamt fünfzig Hektar großen Gebiet Anpflanzungen zu ergänzen und einzelne Parkanlagen neu zu gestalten. Chaoshan rühmt sich, zwei über tausend Jahre alte Pflaumenbäume zu besitzen. Südöstlich des Yangzi-Flusses gehören diese immerhin zu den fünf ältesten.
Glücklicherweise trafen wir einen Tag vor Beginn des Festivals ein und somit vor dem großen Besucheransturm. So konnten wir ungestört und in aller Ruhe über schmale Wege durch die atemberaubend schönen Anlagen streifen. Welch eine Pracht! Soweit das Auge reichte: überall Bäume und Sträucher, deren weiße, rosa, rote und gelbe Blüten sich gerade öffneten. Ich geriet in einen wahren Farbenrausch und schoss ein Foto nach dem anderen, nur um festzustellen, dass nach der nächsten Wegbiegung und dem nächsten Felsvorsprung ein noch schöneres Motiv wartete. In einem eigens für das Festival angelegten Kunstzentrum war dann noch eine Ausstellung mit den Arbeiten berühmter Künstler anzusehen, natürlich rund um das Thema Pflaumenblüte.
Was machen zwei Dutzend Maler und Kalligraphen nach einem üppigen Abendessen? Ich dachte, sie würden zu Pinsel und Tusche greifen und ihre Eindrücke auf Reispapier festhalten. Falsch gedacht. Sie spielen Majiang (Mah Yongg). An einem der zahlreichen Tische fehlte ein vierter Spieler. So musste ich einspringen. Zwar spiele ich nur alle Jubeljahre Majiang. Aber das Glück war mir hold. Was immer ich brauchte, ich bekam den richtigen Stein und schickte meine Mitspieler sehr zu deren Verdruss schließlich „in den Pflaumengarten“, was mir am nächsten Tag zur Belohnung ein schönes Bild einbrachte, denn kurz vor unserer Abreise griffen sie dann doch noch zu Pinsel und Tusche. Ein gelungener Ausflug! Das Pflaumenblüten-Festival von Chaoshan? Es ist auf jeden Fall einen Besuch wert.