Chinas kritische Internet-Öffentlichkeit

   

Das Internet hat in China mehreren Hundertmillionen Menschen die Möglichkeit gegeben, direkt Informationen auszutauschen. Dadurch ist eine mächtige Internet-Öffentlichkeit entstanden, die die Regierung durchaus zu Zugeständnissen zwingen kann.

Auszüge aus dem Buch „Pulverfass China“

Nicht um das Recht auf freie Meinungsäußerung oder um Informations- und Pressefreiheit ging es der Regierung, als sie den Zugang zum Worldwideweb freischalten ließ, sondern um den Anschluss an die Weltwirtschaft. Digitale Kommunikationsmittel zählten zu den Voraussetzungen, ohne die die chinesische Wirtschaft niemals den Höhenflug der vergangenen Jahre hätte schaffen können. Keiner der Regierenden ahnte damals, dass damit eine neue kritische Öffentlichkeit geschaffen würde: die Internet-Öffentlichkeit. Für Millionen Menschen wurde die direkte Kommunikation möglich. Jeder dritte Chinese hat heute Internet-Zugang, etwa 420 Millionen Menschen.

Die Möglichkeiten, die das Internet bietet, werden quer durch alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten in überwältigendem Maße genutzt. Für die in den 1980er und erst recht in den 1990er Jahren Geborenen ist der Umgang mit den modernen internetgestützten Massenmedien eine Selbstverständlichkeit. Auch die Leute mittleren Alters sind online, und als wir in Beijing eine Seniorenresidenz besuchten, sahen wir selbst Hochbetagte stundenlang vor ihren Laptops sitzen.
Für die Chinesen ist das Internet zum wichtigsten Medium geworden. Presse und Fernsehen sind abgehängt, denn im Vergleich zu den Nachrichten der regierungsabhängigen Massenmedien ist das Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt der Nachrichten aus dem Netz wesentlich größer. …

Beeindruckend für alle ist die Geschwindigkeit, mit der sich Nachrichten im Internet verbreiten. Während in den Zentralen von Presse, Radio und Fernsehen noch beraten wird, ob und wie man über Katastrophen, Skandale und Unglücksfälle berichtet, ist die Netzgemeinde längst informiert. Im Internet findet heute der Kampf gegen Kaderwillkür, Korruption und andere Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft statt.

Am Internet wird nicht nur die Möglichkeit geschätzt, Informationen schnell weiterzugeben, sondern vor allem auch, anonym Kritik üben zu können. Faszinierend für die Nutzer und Furcht erregend für die Regierung ist die Tatsache, dass sich Hunderttausende von Menschen allein per Mausklick erreichen lassen. Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden diskutiert, Umweltprobleme und Arbeitslosigkeit debattiert. Augenzeugenberichte von Unglücksfällen und Katastrophen werden verbreitet, ebenso Informationen über Korruption und Vetternwirtschaft ausgetauscht. Regimekritiker kommen zu Wort, Diskussionen über Menschenrechte und Demokratie sind möglich. Skandale wie jener über verunreinigte Milch lassen sich nicht mehr so einfach vertuschen. Beängstigende Informationen können auf diesem Wege soziale Unruhen auslösen. Aus schwachen Gegnern der zentralistischen Staatsgewalt und aus vereinzelten Stimmen macht das Internet eine ernstzunehmende Größe, weil sich die Menschen im Netz zusammenschließen können. …
Die Internet-Öffentlichkeit hat inzwischen eine Macht erreicht, die die Regierung durchaus zu Zugeständnissen zwingen kann. Die Behörden tun alles, um die Netzwerke zu kontrollieren. Jedoch lässt sich der Zugang zu Informationen nur erschweren, verhindern lässt er sich nicht. …