Das Image einer billigen Produktionsstätte hat die Stadt längst abgestreift. Heute gehört Hongkong mit seiner aufgeschlossenen Bevölkerung nach Singapur und Kobe zu den beliebtesten asiatischen Städten, an denen sich Ausländer niederlassen.
Viele Jahre lang hatte Hongkong das Image einer billigen Produktionsstätte für Spielzeug, Textilien, Elektronik und Uhren und zog als günstiges Einkaufsparadies Touristenströme aus aller Welt an. Auf mich wirkte Hongkong in den 1970/80er Jahren immer wie eine riesige Baustelle. Überall wurde gebohrt, gehämmert und gebaut, Altes wurde abgerissen, Neues aus Stahl, Glas und Beton aufgebaut, stetig höher hinaus und natürlich supermodern. Der Lärm war höllisch, die Staubentwicklung immens. Doch der Lärm kam nicht nur von den Baustellen, sondern drang auch aus den unzähligen Fabrikationsstätten und Heimwerkerbetrieben, in denen die so billigen Waren hergestellt wurden.
Arbeiten und Wohnen spielte sich damals in unmittelbarer Nachbarschaft und auf engstem Raum ab. Dann setzten in China die Wirtschaftsreformen ein und die Hongkonger Unternehmer verlegten ihre Produktionsstätten in die benachbarte, kostengünstigere Provinz Guangdong. 1997 erfolgte die Rückgabe der britischen Kronkolonie an China und viele glaubten, Hongkong hätte nun in jeder Hinsicht an Attraktivität verloren. Doch damit hatten sie die Rechnung ohne die quirligen Hongkonger gemacht, dieses bunt gemischte Völkchen, das sich in vielerlei Hinsicht auszeichnet. Inder, Philippinen, Europäer und Leute aus manch anderen Ecken dieser Welt leben in Hongkong, überwiegend jedoch Chinesen, und zwar Südchinesen, temperamentvolle Menschen also, die wissbegierig, fleißig und innovationsfreudig sind. Sie lieben Geselligkeit und gutes Essen, und sie verstehen etwas vom gesunden Leben. Schon seit Jahren gehören sie mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von über achtzig Jahren zu jener kleinen Gruppe, die weltweit die Statistiken anführt.
Hongkong ist heute ein wichtiger Brückenkopf zwischen den asiatischen und westlichen Volkswirtschaften und für Währungstransaktionen mit dem chinesischen Renminbi von herausragender Bedeutung. Doch damit nicht genug. Die Stadt hat sich als eines der weltweit führenden Auktionszentren einen Namen gemacht, vor allem in den Bereichen Kunst und Wein. Was meiner Meinung nach die Hongkonger aber ganz besonders auszeichnet, ist ihr unstillbarer Lerneifer und ihre große Liebe zur Musik. Hongkong ist heute ein Zentrum für zeitgenössische Musik. Mehr als 200 Komponisten leben und arbeiten in der 7-Millionen-Metropole. Ihre Konzerte sind meist ausverkauft. Internationale Orchester und berühmte Interpreten geben sich in Hongkong sozusagen die Klinke in die Hand. Die Chormusik ist allseits beliebt und weit verbreitet. Mit der Musikerziehung beginnt man bei den Kindern schon in frühem Alter. Oft hat mich erstaunt, mit welchem Ernst sich manche meiner Hongkonger Bekannten in der sparsam bemessenen Freizeit ihrem Hobby, dem Studium von klassischem Gesang, Klavier oder chinesischer Geige, widmen. Trotz eines anstrengenden Arbeitsalltags reicht es ihnen nicht, aus reiner Freude an der Musik einfach nur ein wenig zu singen oder zu spielen. Nein, sie haben den Ehrgeiz, sich dem Metier von der Pike auf zu widmen, mittels vieler Privatstunden, die – nebenbei bemerkt – in Hongkong viel Geld kosten.
Überaus beeindruckend war ein Abend, den ich kürzlich erleben durfte. Ich besuchte meine Freundin Rao Lan, eine Sopranistin, die in Frankfurt und München Liedgesang studiert und viele Jahre in Deutschland gewirkt hat. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Hongkong. Sie überraschte mich in ihrer Wohnung mit einem kleinen Konzert, das allein von ihren Privatschülern bestritten wurde. Diese arbeiten in verschiedensten Berufen, haben aber ein gemeinsames Hobby: den klassischen Gesang. Schubert und Schumann, natürlich auf Deutsch gesungen, aber auch italienisches Belcanto, mit voller Inbrust vorgetragen, dem deutschen Gast zuliebe. Ein anrührendes und unvergessliches Erlebnis.