Von der deutschen Kolonie zur chinesischen Boomtown
Als sich das deutsche Ostasien-Geschwader am 14. November 1897 dem 1000-Seelen-Fischerdorf Qingdao näherte, glaubte der Befehlshaber der dortigen Garnison, General Zhang, an einen Freundschaftsbesuch und ein Übungsmanöver, denn die Deutschen waren schon einmal dagewesen, und es war zu freundschaftlichen Kontakten gekommen. Und weil sich General Zhang gutgläubig den ausländischen Gästen widmete, bemerkte er nicht, dass 700 bewaffnete deutsche Matrosen heimlich alle strategisch wichtigen Punkte besetzten. Erst als er aufgefordert wurde, mit seinen 2000 Soldaten innerhalb von drei Stunden den Posten zu räumen, begriff er, was passiert war. Keine vier Monate später unterzeicheten Deutsche und Chinesen einen Pachtvertrag über 99 Jahre, und schon im April 1898 erklärte Wilhelm II das Gebiet zur deutschen Kolonie.
Das junge Deutsche Reich wollte Weltmacht ersten Ranges werden und mit den anderen Kolonialstaaten, vor allem in Konkurrenz zu England, an der Aufteilung der Welt teilnehmen. Dazu bedurfte es überseeischer Stützpunkte. Die Neuerwerbung wurde dem Reichsmarineamt unterstellt, das mit strengem Reglement ans Werk ging. Qingdao sollte eine Musterkolonie werden, ein Schauobjekt deutschen Wirkens und deutscher Tüchtigkeit. Deshalb sollten auch Zucht und Ordnung herrschen, und wer das von den Chinesen nicht verstand und gegen die neu erlassenen Gesetze verstieß, wurde mit Peitschenhieben und Prügel zur Räson gebracht. Auch strenge Rassentrennung gehörte zur Herrschaft der Deutschen. Chinesen und Europäer wohnten in getrennten Wohnvierteln mit unterschiedlich hygienischen Standards. Im Villenviertel der Weißen waren Chinesen nur als Dienstboten geduldet. Zwar durften sich vermögende Chinesen dort ein Haus bauen, selber drin wohnen aber nicht.
Für 99 Jahre, am liebsten für immer wollten die Deutschen Qingdao besitzen. Doch schon nach siebzehn Jahren, mit Beginn des Ersten Weltkriegs, ging das Gebiet an die Japaner verloren. Aus heutiger Sicht zu unserem Vorteil, denn so vergaßen die Chinesen recht schnell die Schattenseiten der deutschen Herrschaft. Fragt man heute in Qingdao nach der deutschen Kolonialzeit, wissen manche von wahren Wunderdingen zu berichten. Von den deutschen Abwasserrohren beispielsweise, die auch nach 100 Jahren dicht sind, was man von den jüngeren chinesischen nicht behaupten kann. Auch hätten die Deutschen vorausschauend einige notwendige Ersatzteile mit in den Boden eingebuddelt. Erstaunlich auch die Kirchen, die von den deutschen Architekten so gut geplant worden wären, dass heute noch die längsten Orgelpfeifen problemlos hineintransportiert und aufgestellt werden könnten. Und überhaupt: Neben technischem Können, Fleiß und Ordnungsliebe zeichne die Deutschen vor allem Beständigkeit aus, versichert mir eine alte Dame, mit der ich zufällig auf der Straße ins Gespräch komme. Sie hätte gehört, dass sich die Telefonnummern deutscher Firmen seit damals nicht verändert hätten. Aus Sympathie schenkt sie mir eine Feige aus ihrem Garten.
1975 besuchte ich Qingdao zum ersten Mal. Die Stadt wirkte auf mich wie ein deutsches Ostseebad. Doch mehr als 30 Jahre Wirtschaftsboom haben die deutschen Spuren fast verwischt. Die Stadt unterscheidet sich mit ihren vielen Hochhäusern aus Stahl, Glas und Beton kaum noch von den anderen supermodernen chinesischen Metropolen. Die Qingdaoer scheinen dies allmählich zu bedauern, denn allerorten werden verschiedenste Anstrengungen unternommen, auf das deutsche Erbe hinzuweisen und es wiederzubeleben. Es gibt der Stadt ein interessantes Flair, das sie von allen anderen chinesischen Städten unterscheidet und sie einmalig macht. Deshalb sind deutsche Investoren dort auch ganz besonders gern gesehen.