Die kleinen Kaiser sind erwachsen geworden

  

Chinas Ein-Kind-Politik – oder – Wenn alle Hoffnungen und Erwartungen von Eltern und Großeltern sich auf ein Kind konzentrieren

Auszüge aus dem Buch „Pulverfass China“

Auf dem Land setzen die Bauern wegen mangelnder Renten auch weiterhin zur Altersvorsorge auf Nachwuchs. Anders in den Städten, wo die Ein-Kind-Politik dank sicherer Renten durchgesetzt werden konnte. Dort lastet auf den Einzelkindern ein gewaltiger Erfolgsdruck.

Frau P., 64, pensionierte Lehrerin, Guangzhou: „Der heutigen Jugend geht es finanziell wesentlich besser als uns damals. Aber gefühlsmäßig geht es ihr schlechter. Sie ist von vielen Dingen abhängig. Wir hatten früher weder Handy noch Computer, SMS oder MSN. Wir mussten bei den Leuten persönlich vorbeigehen, wenn wir sie sprechen wollten. Wir mussten auch alles selber mit der Hand schreiben. Heute sitzen die jungen Leute einsam zu Hause vor ihren Computern und unterhalten sich mit Menschen, die sie nicht persönlich kennen. An den Schulen sind sie großem Druck und Konkurrenzkampf ausgesetzt. Das kannten wir früher nicht. Heute haben die Schüler kaum noch Freizeit. Es wird ihnen unglaublich viel Wissen vermittelt. Doch lernen sie eigentlich nur mit dem Ziel, diese elende Hochschuleintrittsprüfung zu bestehen. Sie werden viel zu wenig auf ihr späteres Leben und die Erfordernisse des Arbeitsmarktes vorbereitet. Unsere Lehrpläne sind veraltet, die Klassen überfüllt und die gesamte Lehrmethode den modernen Zeiten nicht angepasst.“

Die Generation der Einzelkinder hat kein gutes Image. Sie gilt als verwöhnt, egoistisch und oberflächlich. „Kleine Kaiser“ nennt man sie, denn sie herrschen über Eltern und Großeltern. Nicht mehr das älteste Mitglied der Familie ist das Oberhaupt, sondern der kleine Kaiser. Eltern und Großeltern nehmen ihm alles ab und machen ihn auf diese Weise häufig lebensuntüchtig.
Vom Kindergarten bis zur Universität hat man sie immer nur auf die Aufnahmeprüfung der nächsten Stufe vorbereitet. Im Kindergarten auf den Eintritt in die Grundschule, von dort in die Mittelschule und dann in die Universität. Alles wurde ihnen eingetrichtert, aber die wirklich wichtigen Dinge im Leben wie Anstand und gute Manieren – so beklagen es viele Ältere – hätten die jungen Leute nicht gelernt. Deshalb wird sogar im Fernsehen darüber diskutiert, wie man den jungen Leuten nach ihrem Universitätsabschluss noch gute Umgangsformen beibringen kann. Denn eigentlich gehörten sie noch einmal in den Kindergarten. …

Was denken die vielgescholtenen Einzelkinder über ihre Situation? Wir haben einige Stimmen gesammelt: …

H., 22, arbeitsloser Universitätsabsolvent, Shanghai: „Wir jungen Leute sind gut erzogen und bestens ausgebildet. Man hat uns immer gesagt, dass man verantwortungsbewusst und rücksichtsvoll gegenüber anderen sein soll, und jetzt merken wir, dass die Gesellschaft ganz anders funktioniert. Das haben wir nicht erwartet, und deshalb sind viele junge Leute enttäuscht. Es gibt keine Moral mehr und von Tugenden will auch niemand etwas wissen. Ständig hört man von Ungerechtigkeiten, von korrupten Beamten, betrogenen Bauern und verzweifelten Opfern der Umweltverschmutzung. Wo ist die Menschlichkeit geblieben, wo sind die guten Werte, die Tugend und die Moral? Man soll doch ein rechtschaffener Mensch sein. Wer anderen schadet, sollte dafür bestraft werden. Überall fehlt es an Mitleid und Zivilcourage. Es gibt keine Menschenliebe mehr. Auch nicht im medizinischen System. Deshalb ist es in manchen Krankenhäusern schon zu Schlägereien gekommen, weil die Angehörigen der Patienten den Ärzten Verantwortungslosigkeit und mangelnde Anteilnahme vorwerfen.
Heute ist oft zu hören, dass die Universitätsabgänger lieber noch einmal den Kindergarten besuchen sollten, um grundlegende Umgangsformen zu lernen. Das ist ein großes Vorurteil. Man behauptet, wir Einzelkinder wären egoistisch. Das stimmt nicht. Für uns sind unsere Cousins, Cousinen, Freunde und andere Verwandte wie Geschwister. Wie nett und uneigennützig waren die jungen Leute, die während der Olympiade ehrenamtlich geholfen haben. In dieser Hitze und dem Massenandrang haben sie wochenlang ausgehalten. Ich habe viele von ihnen gesehen, wie sie geduldig ihr Bestes gaben, Stunde um Stunde, und immer mit freundlicher Miene. Solche jungen Leute sollen unerzogen sein? Da besteht wohl ein großes Missverständnis. Wir jungen Leute haben keinen Krieg und keine Unruhen erlebt. Trotzdem sind wir nicht glücklich. Wir machen uns Sorgen um unsere Zukunft. Viele Schulen und Universitäten bieten keinen guten Unterricht. Der Druck ist groß und viel Fleiß wird uns abverlangt, aber was lernen wir? Die Kulturrevolution wirkt immer noch nach. Wir lernen beispielsweise die Geschichte der Kommunistischen Partei auswendig, aber wir erfahren nichts über unsere Traditionen und alte Kultur. Es bieten sich auch kaum alternative Möglichkeiten für uns. Es gibt zu wenig Jobs, die unserer Ausbildung entsprechen, und oft bekommt man sie nur über Beziehungen. Und dann die Umweltverschmutzung! Ich frage mich immer, wie einige Leute die Umwelt nur so verschmutzen können.
In China ist das Denken der Menschen noch immer feudalistisch geprägt. In der Familie gibt es ein Oberhaupt, im Dorf auch, wieso dann nicht auch im Land? Früher wünschten sich die Leute einen guten Kaiser, heute einen guten Präsidenten. Bis heute wissen die Chinesen nicht, was ein Bürger ist und was Bürgerrechte sind. Ich habe mal einen griechischen Spruch gelesen. Der lautete in etwa so: Erst wenn du Wissen hast, weißt du was Moral und Tugend bedeuten. Hier gibt es nicht viele Menschen, die das wissen, oder sie wissen es, setzen sich aber darüber hinweg.
Die Wurzel der Gesellschaft ist der Mensch. Die Kommunistische Partei besteht aus Menschen und kann deshalb auch nur so gut sein wie die Menschen, die ihre Mitglieder sind.“ China kann sich nur ändern, wenn jeder bei sich selbst anfängt. Demokratie fängt bei jedem einzelnen an.“