Die Dorfvorsteherin raucht Kette, ihr Blick ist hellwach. Auszüge aus unserem Buch „Pulverfass China“:
140 Familien leben in ihrem Dorf, insgesamt 450 Einwohner. Früher war es eins der ärmsten Dörfer in der Umgebung von Beijing, heute zeigt es sich dem unangemeldeten Besucher als schmuckes, blitzblankes Örtchen. Die Häuser sind fast alle geschmackvoll renoviert und weitgehend im niedrigen traditionellen Baustil angelegt.
„Hier lebten noch nie viele Menschen, aber wir verfügten immer über viel Boden. Durch den traditionellen Weizenanbau verdienten wir nichts, weil die staatlichen Ankaufspreise zu niedrig waren. Als die Reformpolitik begann, haben wir lange darüber nachgegrübelt, wie wir wohl zu Wohlstand kommen könnten. Ab 1990 begannen wir Bäume zu pflanzen. Das war damals ein gutes Geschäft, weil Bäume besonders zur Begrünung der Städte sehr gefragt waren. Aber dann pflanzten plötzlich alle Bauern in der Umgebung Bäume, so dass es bald ein Überangebot gab und die Preise fielen.
Dann fingen wir an, unser Land zu verpachten. Zunächst siedelte sich eine Beijinger Fleischverarbeitungsfirma bei uns an. Später kamen Hightech-Firmen hinzu. An den Pachteinnahmen werden alle beteiligt. Durch die Nähe zur Hauptstadt bieten sich gute Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit dortigen Betrieben. Zum Beispiel haben wir gemeinsam mit einer Supermarktkette einen Betrieb gegründet und 150 Gewächshäuser angelegt, in denen Gemüse gezogen wird. Sechzig Prozent des Gewinns gehen an uns, vierzig Prozent an die Beijinger Firma. Die Qualität unseres Gemüses wird regelmäßig vom Staat geprüft. Wenn schädliche Rückstände nachgewiesen werden, wird das schwer bestraft. Deshalb achten wir sehr auf die Qualität, und bisher gab es noch keine Beanstandungen.
Trotz der vielen Verpachtungen haben wir immer noch genügend freies Land, das wir für den Eigenbedarf bewirtschaften können. Neben Getreide ziehen wir Obst und Datteln, züchten Fische, Schweine und Schafe. Die meisten jungen Leute arbeiten in nahe gelegenen Fabriken. Wenn wir alles zusammen rechnen, haben unsere Dorfbewohner ein Basiseinkommen von 3700 RMB pro Jahr und Kopf, unabhängig davon, ob sie in der Stadt oder hier auf dem Land arbeiten. Nicht enthalten in dieser Summe sind die selbst erwirtschafteten Einkünfte und die Löhne. Letztere sind individuell sehr unterschiedlich, je nachdem, wer wo arbeitet. Insgesamt gesehen leben wir hier weitgehend autark und brauchen nicht viel Geld zum Unterhalt. …
Die Reformpolitik hat in unserem Dorf bewirkt, dass die Bauern außer für die Eigennutzung kein Land mehr bewirtschaften. Sie haben es dem Kollektiv zur Verpachtung überlassen. Das hat jeder Familie große Vorteile gebracht. Die Bauern sind zufrieden. Viele haben sogar ein eigenes Auto. Insgesamt gibt es vierzig Autos in unserem Dorf. Manche Leute fahren sogar mit ihrem Privatwagen zur Arbeit in die Stadt. Es gibt natürlich bessere Dörfer als unseres. Ich kenne eins in der Region mit tausend Einwohnern und dreihundert Autos. Aber verglichen mit den Dörfern in den Bergen geht es uns hervorragend. Die entlegenen Gebiete können nicht mit den stadtnahen konkurrieren. Denen geht es längst nicht so gut wie uns. …
Ich stamme aus einer sehr armen Familie. Als ich acht Jahre alt war, hat mich mein Vater in dieses Dorf verkauft. Wenn ich zurückblicke, erscheint es mir selbst fast unglaublich, was vor 1949 alles passiert ist. Ich habe nicht viel gelernt, ich habe immer nur gearbeitet. Bis heute bin ich eine halbe Analphabetin. Was ich kann, habe ich durch meine Arbeit gelernt.
Mir liegt die Bildung der jungen Menschen am Herzen. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass jede Familie einen Internetanschluss hat. Das gehört für mich zu den Voraussetzungen einer guten Bildung. …
Insgesamt gesehen konnten die Reformen in der Landwirtschaft jedoch nicht verhindern, dass es wieder Unterschiede zwischen Arm und Reich gibt. Einige Bauern waren zu Beginn der Reformen mutiger als andere, vielleicht waren sie auch vorausschauender. Sie haben anderen das Nutzungsrecht an deren Boden abgekauft, und jetzt verpachten sie ihn. Zunächst hieß es, dass sich an den Nutzungsrechten fünfzehn Jahre lang nichts ändern würde. … Inzwischen sind sie vererbbar geworden. Das bedeutet, dass Bauern, die das Nutzungsrecht an einem Stück Land verkauft haben, es nie mehr zurückerhalten, während andere das Land gewinnbringend verpachten können oder auf ihren zugekauften Flächen Obst und Gemüse pflanzen und wahnsinnig viel Geld verdienen. Das sorgt für viel Unmut. Die neuen Bodengesetze enthalten also noch viele Probleme. Wie man die lösen soll, weiß ich nicht, aber ich bin davon überzeugt, dass unserer Regierung etwas einfallen wird.“