Guanyin, die beliebteste Gottheit des chinesischen Buddhismus, lockt Millionen Besucher zum Archipel der 1390 Inseln. Auch Karl Gützlaff, ein deutscher Missionar, war schon dort gewesen, allerdings nicht um Guanyin anzubeten.
Kürzlich rief mich eine Frau an, die in Zhoushan zu Hause ist. Gleichnamiger Archipel befindet sich mit seinen 1390 Inseln vor der Küste der Provinz Zhejiang im Ostchinesischen Meer. Ich kannte die Frau nicht. Sie aber kannte meinen Mann und mich, denn sie hatte mehrere Artikel und Bücher von uns gelesen. Außerdem war sie eine gute Bekannte eines uns vertrauten Bekannten. Sie wollte uns gern persönlich kennen lernen und fragte, ob wir nicht Lust hätten, sie auf der Insel zu besuchen. Nach Rücksprache mit unserem vertrauten Bekannten nahmen wir die Einladung an, denn in China gilt, dass deine Freunde auch meine Freunde sind. Außerdem wollte ich schon seit langem mal wieder nach Zhoushan fahren. Knapp dreißig Jahre zuvor war ich schon einmal dort gewesen, auf Putuoshan, einer Berginsel, die zu dem Archipel gehört und als einer von vier heiligen buddhistischen Bergen in ganz China verehrt wird. Damals war der Besuch mit einer beschwerlichen Anreise verbunden. Von der Hafenstadt Ningbo aus ging es auf einer wenig Vertrauen erweckenden Fähre fünf Stunden lang durch unruhige See. Nur wenige Besucher verirrten sich damals dorthin, wo die Zeit still zu stehen schien, und so herrschte an den heiligen Stätten von Putuoshan eine wahrlich himmlische Ruhe. Ein bis heute unvergesslicher Eindruck. Auch wenn sich Tempel und Klosteranlagen nach Jahrzehnten der Vernachlässigung und Zerstörung in einem meist bedauernswerten Zustand befanden.
Diesmal erfolgte die Anreise von Shanghai aus per Flugzeug, und in nur wenigen Minuten erreichten wir unser Ziel. Wir hätten auch mit dem Auto fahren können, denn inzwischen ist Zhoushan über mehrere gigantische Brückenkonstruktionen mit dem Festland verbunden.Frau Liu empfing uns mit Fahrer und großer Limousine. Sie war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, Anfang sechzig und eine überaus gepflegte Erscheinung. Von der Unterbringung bis zur Verpflegung hatte sie alles aufs Beste vorbereitet. Zunächst erfrischte sie uns mit köstlichem grünem Tee, und dann ging es auch schon in ein feines Meeresfrüchterestaurant. Der Fischfang hat in dieser Region von jeher eine herausragende Rolle gespielt, denn Zhoushan zählt zu den wichtigsten Fischereigebieten Chinas. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich die Einheimischen hervorragend auf die Verwertung und Zubereitung von Meeresfrüchten verstehen. Eine Spezialität sind Gelb- und Tintenfisch, die überall frisch und in den verschiedensten Variationen angeboten werden. Die wirklichen Kenner unter den Besuchern kaufen getrocknete Meeresfrüchte, weil diese ganz besonders schmackhaft und lange haltbar sind.
Aber Zhoushan ist nicht nur als religiöses Zentrum interessant. Auch von der Historie gibt es manch Bemerkenswerte zu berichten. Der Archipel war in vergangenen Zeiten von strategisch höchster Bedeutung, denn von den Inseln aus ließ sich nicht nur die Yangzi-Mündung kontrollieren, sondern auch ein weiter Teil der chinesischen Küste und damit die Schifffahrtswege nach Norden und Süden. Das wussten auch die Briten, als sie um 1840 China zur Öffnung des Landes zwingen wollten, um ungehindert indisches Opium verkaufen zu können. Der chinesische Kaiser hatte den Opiumhandel verboten und die ausländischen Händler des Landes verwiesen. Nur in Kanton durften sie mit lizensierten chinesischen Kaufleuten Handel treiben und sich in einer Enklave einen Teil des Jahres aufhalten. Doch die enormen Renditen des Opiumhandels waren viel zu verlockend, als dass man bereit gewesen wäre, sich dem Verbot zu beugen, und so blühte ein reger Schmuggel. Natürlich war den Händlern klar, dass sie bei freien Handelsmöglichkeiten wesentlich höhere Gewinne erzielen könnten. Ein Grund für sie, die Öffnung der Märkte zu erzwingen. Tatkräftig unterstützt wurden die Briten von dem Deutschen Karl Gützlaff, der als umstrittenste Gestalt unter den westlichen China-Missionaren gilt. Er war besessen von der Idee, China noch zu seinen Lebzeiten zu christianisieren, und da er glaubte, dass allein durch die Lektüre christlicher Texte die Herzen der Chinesen für das Wort Gottes geöffnet werden könnten, tat er alles, um möglichst viele chinesischsprachige Traktate unter der einheimischen Bevölkerung zu verteilen. Gützlaff beherrschte mehrere chinesische Dialekte und war ein Meister der Verkleidung. So gelang es ihm trotz Einreiseverbots für Ausländer, 1831 als Chinese verkleidet an Bord eines chinesischen Seglers die Küsten von Süden bis hinauf in den Norden zu bereisen und genau zu erkunden. Seine auf diese Weise gewonnenen Detailkenntnisse zum Küstenverlauf waren für die ausländischen Opiumschmuggler von unschätzbarem Wert. So trat Gützlaff denn auch bald in die Dienste der britischen Opiumhändler Jardin & Matheson. Mit ihm an Bord der hoch gerüsteten Schiffe machten die Opiumschmuggler überwältigende Gewinne. Später war Gützlaff auch mit von der Partie, als die britische Kriegsflotte 1840 zur gewaltsamen Öffnung des chinesischen Kaiserreichs ansetzte und die Küste hinauf Richtung Norden segelte. Nur er kannte die strategische Bedeutung Zhoushans. Die Insel wurde deshalb besetzt und eine Garnison zur Kontrolle der Yangzi-Mündung abkommandiert. Und während die britische Flotte weiter gen Norden zog, blieb einer als britischer Magistrat auf Zhoushan zurück: der Deutsche Karl Gützlaff. Später machte er einen weiteren Karrieresprung. Er übernahm beim britischen Gouverneur der frisch gegründeten Kolonie Hongkong das Amt des chinesischen Sekretärs.
Frau Liu nahm sich Zeit und Muße, uns drei Tage lang mit der Inselwelt vertraut zu machen. Sie hatte Kuans autobiographischen Roman „Mein Leben unter zwei Himmeln“ gelesen, und vieles darin erinnerte sie an ihre eigenen schmerzlichen Erfahrungen während der Zeit der politischen Massenkampagnen. Aber ist das ein Grund, fremde Menschen gleich für ein paar Tage einzuladen und zu betreuen? Für die Chinesen ja. Die chinesische Gastfreundschaft kann überwältigend sein.